Lesereise (17). Temeswar. 3 Tage Rumänien

Temeswar, Deutsche Kulturtage, 07. Juni 2016rumänien-40
Die Frage ist doch: Warum reisen? Um an fremden Orten zu sein? Warum denn? Um sagen zu können: Ich bin hier gewesen. Und eine Stecknadel sticht in die Weltkarte und markiert eine Stadt, ein Land, ein Erdteil? Und ein Foto ist gemacht und ein Blogeintrag geschrieben?

Oder geht es darum, etwas kennenzulernen? Aber was heißt kennenlernen? Informationen aufnehmen? Geschichten erfahren? In Restaurants Unbekanntes essen? Verstehen? Wie funktioniert denn dieses Verstehen? Bedeutet verstehen nicht sich hineinzuversetzen und glückt hineinversetzen nicht allein durch leben? Ist leben Alltag? Wie lange müsste ich an einem Ort Alltag erfahren, um sagen zu können: Ich verstehe?Jedenfalls reise ich. Für drei Tage nach Temeswar. Temeswar liegt im Westen Rumäniens, nicht weit von der ungarischen und serbischen Grenze entfernt, die drittgrößte Stadt des Landes. Eingeladen bin ich vom Deutschen Kulturzentrum für eine Lesung. Eine Lesung dauert eine Stunde, die Reise zwei Tage. Einen Moment lang frage ich nach der Verhältnismäßigkeit. Glücklicherweise ist dieser Moment kurz nur, denn: Reisen! Irgendwo anders sein! Etwas kennenlernen!

Eine Reise teilt sich in An, Ab und Dasein auf. Die Anreise ist so: Ich fliege von Berlin aus nach Budapest. Dort soll ich erwartet und in vier Stunden nach Temeswar gefahren werden. Erstmals soll mein Name auf einem Schild stehen, dass ein mir Fremder den Ankommenden entgegenstreckt. Da bin ich ganz froh, dass in Budapest tatsächlich ein solches Schild existiert. Denn gäbe es dieses Schild nicht und den Mann dazu, der das Schild hält, würde ich zwei Tage am Budapester Flughafen abhängen und schließlich lesungslos zurückfliegen. Auch das wäre eine Reise, auch dann wäre ich irgendwo gewesen und hätte etwas zu erzählen.

So aber können wir weiterreisen. Fünf in einem deutschen Mittelklassewagen durch Ungarn und Rumänien,  Richtung Banat. Die Enge und die Zeit geben die Möglichkeit, Geschichten auszutauschen. Zum Beispiel der Rumäne mit dem hochgeklappten Camp-David-Shirt-Kragen. Er stammt aus einem kleinen rumänischen Dorf, zehn Geschwister hat er, ein paar Jahre in der Nähe von Nürnberg gelebt, ein paar in Wien. Mit Anfang Zwanzig ging er nach Chicago. Wegen Geld.

Um Geld geht es in unserem Gespräch, das sein Monolog ist. Um Steuern sparen geht es ihm, was man in Amerika verdient, was in Rumänien, wie billig Immobilien in Rumänien sind, mehrere Häuser habe er in seinem Heimatdorf schon gekauft. Einmal im Jahr komme er zurück, irgendwann vielleicht für immer. Autos habe er importiert, exportiert, an Deutschland schätze er vor allem die Autobahn. Er spricht über Korruption, über Bodenschätze, Gold und Eisen, über den deutschstämmigen Präsidenten, der öfter mehr in Florida als in Bukarest sei.Wenn endlich die alte Garde abtrete, sagt er, könne Rumänien das mächtigste Land der Welt sein. Für Ceausescu habe er keine Sympathien. Aber damals herrschte Ordnung. Wer nicht arbeiten wollte, wurde eingesperrt! So etwas gab es in keinem anderem Land! Damals auch keine Kriminalität. Alles war an seinem Platz. Und heute? Kriminalität, Diebstahl, Drogen. Nein, er möchte Ceausescu nicht verteidigen. Aber es hatte auch sein Gutes. Keine Schulden habe der gemacht. Die kamen erst nach der Revolution, auf Betreiben von Russland und Amerika, die Rumänien hatten klein halten wollen.Irgendwann sagt er: »Hillary«. Und: »I’m not a racist, but how stupid you have to be to put women in charge?« Ich frage »Why?« und er sagt: »Because women get emotionally involved.« Er wisse das, weil er viele amerikanische Gerichtsshows schaue. Und immer wenn eine Frau Richterin sei, sei das so. Sie reagiere emotional. Frauen seien so. Und das nicht nur einmal im Monat.

Mittlerweile hat er sich in einen cholerischen Rausch geschwafelt. Die Stimme laut, die Gesten ausholend, ein Schwall von Worten. Die erste Stunde der Fahrt über die ungarische Autobahn deklamiert er so. Irgendwann wird es dem Fahrer zu viel. Er meint, dass er anhalten und so lange nicht weiterfahren würde, bis der amerikanische Rumäne sich nicht beruhigt habe.

Das macht der irgendwie. Also die zweite Stunde Ungarn. Dann die Grenze. Pässe werden aus dem Fenster gereicht, Kontrolleure mustern uns mit schießschartenähnlichen Augen. Weiterfahrt. Viele Felder. Auf Strommasten nisten Störche. An Laternenpfählen hängen Blumentöpfe. Überall blühen Rosen. Am Straßenrand in Holzverschlägen der Verkauf monströser Wassermelonen. Manchmal auch handgefertigte Besen. Kühe und Truthähne traben über die Straßen. Die Straßen ziehen sich kerzengerade bis in den Horizont. Dort wartet immer ein Dörfchen, das Sandra heißt. Als Silhouetten Kapellen. Die Häuschen sind einstöckig. Regenrinnen sind auf Stelzen gestützt. Traktoren parken auf der Straße. Tramper. Kopftücher wie bunte Wolldecken auf den Köpfen der gebeugten Mütterchen.Irgendwann erreichen wir Temeswar. Ich frage den rumänischen Amerikaner nach den wichtigen rumänischen Worten: »Guten Tag« also und »Auf Wiedersehen« und natürlich »Dankeschön«.
»Buna«, sagt er, »hello.«
Dann fügt er an: »If you say Buna und look a woman deep in her eyes, it means that she is hot.« Dazu meckert er ein anzügliches, um Billigung unter Männern buhlendes Pick-Up-Artist-Gackern aus seinen Hoden hoch. Er setzt mit weiteren, ähnlich gelagerten Sätzen nach, bis wir die Einkaufsmall Iulius erreichen, wo er aussteigt. Ich kurz darauf am Hotel Savoy.
Am Abend gehe ich in die Altstadt. Anfangs ein Boulevard. Auf der einen Seite eine mit goldenen Ikonen bestückte orthodoxe Kapelle, die größte Kirche Rumäniens. Gegenüber die Oper, ein Haus mit drei Staatstheatern, darunter dem deutschen. In wenigen Tagen findet hier ein Symposium über Herta Müller und Elfriede Jelinek statt. Der Boulevard davor ist belebt. Wie üblich schrecken Kinder Taubenschwärme auf, man sitzt in karierten Hemden in weitläufigen Cafés, jemand spielt transzendent auf einer tibetanischen Klangschale, alle lecken am Eis, denn Eis gibt es hier alle drei Meter, gezogen aus Automaten, 1 Ron die Waffel, macht fünfundzwanzig Cent.Eigentlich will ich laufen und schauen und komme doch nur bis zum Piata Libertatii, dem Freiheitsplatz. Eine Bühne ist aufgebaut und auf der Bühne spielt eine Big Band. Davor Jungen und Mädchen einer Tanzschule. Tanzen ist ja oft erstaunlich. Gerade wenn es eisern betrieben wird. Jahrelang trainieren, unzählige Stunden in einen Bewegungsauflauf geben, jeden Schritt, jede Muskelentspannung proben, so dass es für drei Minuten leidenschaftlich, frei und impulsiv wirken kann. Drei Minuten, in denen die Jahre verschwinden, in denen sich das Fliegen, das Schweben, das Glänzen zeigt.

Sicher könnte ich beim Tanzen auf vieles schauen: die gewagten Kleider, die eleganten Fracks, die Schrittabfolge, die Hände, Finger und Frisuren. Aber meist lohnt sich, in die Gesichter der Jungen und Männer zu schauen, diesen inszenierten Ernst sehen, die gefletschten Zähne, den heiligen Stolz, der erst nach dem letzten Ton erleichtert zu Boden klirrt.Neunzig Minuten vergehen so. Dann ist die Dunkelheit da, die in der Altstadt von Licht geflutet ist und gerade so hat noch ein Mini Markt für das dringend benötigte apa minerala naturala auf, eisgekühlte zwei Liter reichen zurück bis zum Hotel.

Am nächsten Vormittag ein Vorstellen im deutschen Kulturzentrum. Das gibt es, weil es einmal die Donauschwaben gab, die hier Sümpfe trockenlegten und sich ansiedelten und ihre Sprachen sprachen und das lange Zeit so taten. Heute gibt es noch die Goethestraße und auch deutsche Schulen, das Staatstheater sowieso und Kurse an der Uni. Doch ist Deutsch zu lernen heute mehr eine Frage der Vernunft. Deutsche Firmen siedeln sich gern hier an. Im Institut eine Bibliothek, der Roman von Jenny Erpenbeck liegt aus, auch grafische Novellen, von Olivia Vieweg, von Mawil.Danach zeigt mir Cristiana die Stadt. Cristiana spricht rumänisch, englisch, spanisch, ein bisschen französisch und italienisch und hat sich deutsch im Selbststudium beigebracht. Bücher liest sie gern mehrmals und in verschiedenen Sprachen, Gedichte mag sie sehr, besonders die spanischen.

Diesmal komme ich weiter als bis zum Piata Libertatii. In Temeswar begann die rumänische Revolution. Viele verloren ihr Leben, Ceausescu ließ auf die Menschen schießen. Cristiana war damals ein Kind. Sie erinnert sich, wie ihre Mutter ihr befahl, sich flach auf den Boden zu legen. In manchen Fassaden sind noch Schussspuren zu sehen.Am frühen Abend findet die Lesung in der Unibibliothek statt. Ein Übersetzungswettbewerb war zuvor ausgeschrieben. »Hager« sollte übersetzt werden, sieben Seiten über einen denkenden Toten und einen kleinen Jungen. Die Jury wählte zwei Gewinnerinnen. Nun heißt es: Lui Hager nu prea ii merge bin. Mai exact, este mort. De opt zile.

Die Jury gratuliert, überreicht Urkunden und Geschenke. Die Leiden des jungen Werthers sind Trostpreise. Ich trage »Hager« mit den Gewinnerinnen vor, abwechselnd die Passagen in deutsch und rumänisch. Erstaunlich, den eigenen Text so fremd zu fühlen. Und doch kann ich anhand von Schlüsselworten recht genau verfolgen, an welcher Stelle wir uns befinden. Weitere Geschichten danach, sprechen über den Unterschied zwischen dem Schreiben von Erzählungen und Drehbüchern, über die rumänische Sprache, über Bayer.Noch ist es hell, als wir ein weiteres Mal in die Stadt aufbrechen. Diesmal wird gesungen, Kinder miniplaybacken »Hit the Road Jack«, »Hijo de la luna«, »The Locomotion« und mehrmals Abba, »The Winner takes it all«, »Mama Mia« und »Knowing Me, Knowing You«. Auch hier ein heiliger Ernst in den Gesichtern, ein ewiger Augenblick im Zentrum aller Smartphonekameras. Es wäre falsch, auf die Töne zu achten. Stattdessen die leidenschaftliche Vorstellung einer möglich strahlenden Zukunft spüren, die in jeder Silbe mitschwingt.

Am nächsten Morgen die Rückfahrt nach Budapest. Diesmal mit einer Norwegerin, welche im Smartphone die Lieder hört, die die Kinder gestern sangen. Am Budapester Flughafen sperren die Sicherheitskräfte für dreißig Minuten das Terminal und doch bin ich irgendwann in der Luft, zwischen den kilometerhohen Quellwolken. Und während die Stewards überteuerte Baguettes verkaufen, denke ich: Ja, ich bin gereist. Ja, ich bin wo gewesen. Ja, ich habe etwas kennengelernt. Ich habe so gar etwas gelebt. Drei Tage Rumänien und dann kommt die Melodie von »Knowing Me, Knowing You« in meinem Kopf und bleibt, bis wir in Schönefeld landen.

Lesungstagebuch: »Ausschau halten nach Tigern«

Was noch geschah:

Lesereise (16). Bamberg. Im Liveticker.
Lesereise (15). Leipzig. Ich will.
Lesereise (14). Krefeld. In der Schule. Schon mal anders als das meiste.
Lesereise (13). Hamburg. Tee mit Käse.
Lesereise (12). Frankfurt. Willst du glücklich sein? Oder normal?
Lesereise (11). Köln. Momente der Unvernunft an Orten in weiß.
Lesereise (10). Hamburg. In Zahlen.
Lesereise (9). Hamburg. Zu viel ist auch nur eine Frage der Menge.
Lesereise (8). Köln. Die wunderbare Welt von ausgedachten Glühwürmchen.
Lesereise (7). Zwickau. Die Liebe in Zeiten des Regelsatzes.
Lesereise (6). Freiburg. Eine Tonne Omega-3-Lachsölkapseln.
Lesereise (5). München. Mein Der Regler.
Lesereise (4). JVA. Gürtelschnalle ist okay, Klapptaschenmesser nicht.
Lesereise (3). Erfurt. Zweimal das Tiger-Spezial.
Lesereise (2). Hamburg. Krass ist ein Wort, das immer geht.
Lesereise (1). Leipzig. Lies doch einfach schneller.

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