Sybille Berg – Der Mann schläft
Wunderbarer Hass auf das Mittelmäßige und Erbärmliche. Seite für Seite ließe sich hier durchgehend rot unterstreichen. Im besten Sinne ein Klassiker – das Innenleben einer Figur gegen die Welt gestellt und beide scheitern. Der Mann kriegt keinen Namen ab und wirkt damit so herrlich hohl wie »der Mann«, »Kind 1«, »Kind 2« in deinem Lieblingselternblog, nur dass hier keine Ratschläge gegeben werden und sich alles, nur nicht Wohlfühlmomente einstellen sollen.
Ronja von Rönne – Wir kommen
Es gehört Größe dazu zu erkennen, dass Provokation allein eine leere Hülle ist, gerade, wenn einem dafür zu viele von den Falschen auf die Schultern klopfen. Ronja von Rönne hat sich von ihrem provokanten, sehr dummen Feminismustext mittlerweile distanziert. Um so schöner, dass dieses Buch keine Provokation sein will, sondern lakonisch und sehr entspannt in sich ruhend unaufgeregt Befindlichkeiten von Menschen erkundet, die im wahren Leben zuerst das ZEIT-Magazin statt die ZEIT lesen würden.
Boualem Sansal – 2084
Wie gern ich mir vorstelle, dass Lutz Bachmann oder André Poggenburg »2084« kaufen, weil: Dystopie durch Islam. Und nach zwei Seiten aufgeben, weil: Verstehn se nicht. Die Sprache ist dicht und getränkt und voller schweren Blumen, Sätze ohne Komma und wenn Komma, dann sind diese Brücken zwischen großen Gedanken. Sansal geht es um die Mechanismen von Religion, wenn Religion Machtinstanz ist. Der Islam ist da nur Platzhalter, vielleicht auch nicht. Vielleicht auch schön, dass sowohl er als auch Hollebecque es ihren potentiellen »Fans« nicht allzu einfach machen, sondern sie zwingen, eigene Sicherheiten zu hinterfragen bzw. tief in Geschichte einzusteigen. Weil: Wo lässt sich mehr Widerspruch finden als in der Religion?
Emma Cline – The Girls
Mal ins Blaue gemutmaßt, dass sich beim Lesen des Prologs die Verlage wohl um die Rechte geschlagen haben dürften. Das fängt schon nahezu perfekt ein, was amerikanische Gegenwartsliteratur will. Danach erst mal ein Loch, aus dem sich die Geschichte eines Mädchens mäandert, das in die Fänge einer Sekte gerät. Charles Manson angenehm gruslig vor Augen, folgt man den Geschehnissen eines flirrenden, blutgetränkten Sommers und bleibt dabei stets im Kopf eines erwachenden, selbstbestimmten Lebens, der weiblichen Hauptfigur.
Han Kang – Die Vegetarierin
Bei manchen Ideen explodieren ja im Vorfeld die Gedanken: Wie kann wohl ein Roman geschrieben sein, in dem sich eine Frau in eine Pflanze verwandelt? Nicht verwandeln will, sondern verwandelt! Wie in einen Käfer. Drei Teile, der erste, aus der Sicht des Mannes, brillant geschildert, der so gefühls- und seelenlos kalt wie ein totes Stück Fleisch, um im Bild zu bleiben, auf seine Frau schaut und damit all das somnambule Elend schon vorwegnimmt.
Jörg Magenau – Princeton 66
Die Gruppe 47 reist in der Abenddämmerung ihres Seins nach Amerika. Bekannte Literaten wie Grass, Lenz, Handke Enzensberger lesen einander vor, Kritiker wie Reich-Ranicki kritisieren, der Autor ordnet süffisant ein. Am deutlichsten die Stelle, als sich die Türen hinter der Gruppe schließen und die Autoren unter sich sind und damit unsichtbar für die Welt und so die Welt retten wollen, die ewige Geschichte von Literatur eben. Schönster Satz: »Grass streckte, durchströmt vom angenehmen Bewusstsein, Günter Grass zu sein, die Beine aus.«
Philipp Winkler – Hool
Der Autor erklärte in einem Interview, dass es ihm nicht darum gehe, ob Hooligans seinen Roman über Hooligans der Echtheit wegen abfeierten. Eine sehr löbliche Einstellung. Trotzdem komme ich nicht umhin zu urteilen: »Hool« fühlt sich an wie ein Text, über den mit wohligem Schaudern gesagt wird, er sei »authentisch«. Ich ergänze: Der Roman will »authentisch« geschrieben sein und trägt diese Behauptung vor sich her, wie eine Möhre an einer Angel, die einem Hasen hingehalten wird, damit der Hase läuft und läuft und läuft. Nur ist der Hase hier ein Literaturauditorium, welches Authentizität für ein Asset hält. Leider Abbruch nach fünfzig Seiten.
Nis-Momme Stockmann – Der Fuchs
Auch hier ein vorzeitiger Abbruch. Nicht, weil mir Geschichte, Figuren, Ort, Mysterium missfielen. Nur fiel mir nach achtzig Seiten auf, dass ich dieses Buch so ähnlich schon einmal gelesen hatte, beim wunderbaren »Gegen die Welt« von Jan Brandt. Da der Fuchs 720 Seiten hatte und ich nicht ausreichend Zeit und letztlich nicht den letzten Rest Wahnsinn, mich in diese ausufernde norddeutsche Kleinstadtjugend zu versenken, gab ich mit gutem Gewissen auf.
Teresa Präauer – Oh Schimmi
Auch wenn ich lange nicht verstanden habe, von was oder wem erzählt wird, habe ich die Worte gern gelesen, die Sprache, dem Shiver schimmi, der nackt platzenden Hornhaut und der Miss Rodeo.
Lutz Dammbeck – Besessen von Pop
Sehr empfehlenswerte Biografie von einem, der experimentiert, fordert, forscht und verknüpft. Beginnt in der DDR und endet in der N*S*A, zwei Pole, die sich nicht mal mehr gegenüberliegen. Kunstgeschichte, Faschismuskritik, Sozialismuskritik, Kapitalismuskritik etc. gibt es dazu. Einzig der Titel passt so sehr wie »Deutschland sucht den SUPERSTAR«.
Miranda July – Der erste fiese Typ
Anfangs das Gefühl, der fiese Typ wäre skurril, aber letztlich niemand für mich und meine Lebenswirklichkeit. Glücklicherweise widerlegt die wunderbare Miranda July dieses Annahme durch Figuren, die einem – Kunstkartentexter würden schreiben – ans Herz wachsen, so sehr, dass ich ergriffen bin vom Ende und den vielen Seiten davor.
Thomas Meinecke – Selbst
Neben Regionalkrimis sind Warum-Sachbücher das Allerschlimmste. Beides sollte es nicht mehr geben. Dafür nur noch Sachbücher, die wie Romane geschrieben sind und diese Romane so wie »Selbst«: ein wissenssattes Nebeneinander von Positionen, lose und doch klug miteinander verknüpft, David Bowie neben Bettina von Arnim neben Wolfgang Tillmanns neben Zitaten aus der SZ neben Maria Magdalena, sowohl Vorlesung als auch Einfangen des Zeitgeists, Gossip, Anekdoten, Popkultur etc.
Tom Perrotta – Die Verlassenen
»The Leftovers« ist sicher die gegenwärtig _Superlativ_, _zweites Superlativ_ Serie, _Superlativ 3_. Da kann es nicht schaden, den Roman, auf dem dieses Wunderwerk basiert, zu lesen, dachte ich und stellte fest, dass die _Superlativ_ Serie zehn Mal weiter geht. Im Buch wird die Prämisse (2% der Menschen verschwinden plötzlich, wie gehen die Hinterbliebenen mit dem Verlust um) nur angerissen, vielmehr wird das Leben einer amerikanischen Kleinstadt skizziert. Nicht ohne Grund gibt es Lob von Stephen King dafür, denn ähnlich wie King skizziert Perrotta nicht, sondern füllt reichlich aus, anders noch als in »Little Children«, wo kaum ein Wort zu viel schien.