Ich weiß, wenn ich jetzt über das avenidas-Gedicht schreibe, ächzt jede, weil jeder schon über das avenidas-Gedicht geschrieben hat und alle haben schon alle Wörter der Welt für Alleen, Blumen, Frauen und Bewunderer eingesetzt, was im Grunde genommen dafür spricht, wie großartig das Gedicht ist und beweist, dass ein Gedicht alles sein kann, gerade in der eigenen Interpretation und grundsätzlich die Frage sein sollte, wie sich die eigene Interpretation zur Welt stellt und wer wem damit auf den Geist gehen sollte oder gerade muss, weil jedes Gedicht natürlich mehr als ein Gedicht ist, auch eine Möglichkeit, den allgemeinen Zustand anzuzweifeln oder euphorisch zu bejahen oder in die hohle Hand zu sprechen.
Nun muss ich darüber nicht mehr schreiben, auch nicht erklären, dass ich die Interpretation der Kritisierenden nicht nachvollziehen kann, ich die Entscheidung, die Worte zu weißen mindestens einfallslos, sicher für falsch halte. Schreiben muss ich nicht, dass ich mir gewünscht hätte, dass getan worden wäre, was man bei Kunst immer tun sollte: Sich miteinander darüber austauschen, Wahrnehmung, Wissen, Interpretation teilen und am Ende gehen alle klüger als zuvor nach Hause. Aber das wäre vermutlich eine naive und realitätsferne Vorstellung, wie eine solche Diskussion ablaufen könnte.
Das müsste ich nicht schreiben. Dann sah ich zwei Videos.
Das eine zeigt eine Rede Björn Höckes im thüringischen Eisleben, auf der er von der Demokratie als Augiasstall spricht, der ausgemistet werden müsse. Das andere bildet eine sogenannte Klartextrunde der AfD in Pirna ab, eine Art Stammtisch, auf der ein (Pegida)Redner unter dem Schlagwort Nationalstolz das Töten von Menschen in den Raum stellt. In diesem Raum sitzen Bundestagsabgeordnete der Partei, Mandatsträger also, die über unsere Gesetze mitentscheiden. Das Erschütternde dabei ist die Zustimmung, das dumpfe Abnicken, das kleingeistige Klatschen, das gehässige Johlen, ein Mob, noch passiv im Gasthof, wartend auf ein Zeichen, loszustürmen.
Dazu die Ereignisse in Österreich; der Spitzenkandidat der niederösterreichischen FPÖ Mitglied einer Burschenschaft, die Lieder vom Vergasen der Juden zu ihrem Kanon zählt, der Akademikerball, die konzentrierten Lager für Volksfremde etc.
Anders gesagt: Der Faschismus ist kein historisches Ereignis. Er klopft auch nicht an die Tür. 2018 steht er mitten im Zimmer.
Momentan lese ich Eine kurze Geschichte der Menschheit. Darin entwickelt Yuval Noah Harari eine Theorie, wie der Mensch zum Menschen wurde: Indem er begann, sich Geschichten zu erzählen. Mythen und Legenden, die eine Gemeinschaft einen, wenn man so will, den notwendigen Konsens darüber schaffen, in was für einer Welt wir leben möchten, Werte bestimmen, die man gemeinsam vertritt, Verhaltensweisen benennt, welche man geschlossen ablehnt.
Geschichten werden durch Sprache erzählt.
»Wer die Begriffe prägt, der prägt die Sprache. Wer die Sprache prägt, der prägt das Denken. Wer das Denken prägt, prägt den politischen Diskurs, und wer den politischen Diskurs prägt, der beherrscht die Politik, egal, ob in der Opposition ist oder in der Regierung. Kampf um die Begriffe.«
Sagt Björn Höcke in seiner Rede. Jasmin Schreiber hat diese sehr ausführlich analysiert. Und verlinkt in ihrem Text zu einem Video von Martin Sellner, einem der bekannten Gesichter der Identitären Bewegung.
Darin beschreibt dieser ein Modell mit drei Begriffen – Ideologie, Macht, Volk. Und erklärt, dass er die Ideologie, also das Denken, also die Geschichten, die wir uns erzählen, angreifen will: mit Begriffen, mit Zweifeln, mit Provokationen. Denn habe das Volk, so Sellner, ausreichend Zweifel am Bestehenden, dann verändern sich die Geschichten und damit auch die Machtverhältnisse.
Nichts anderes geschieht gerade durch die Neurechte Bewegung; Lügenpresse, Merkelland, Flüchtlingsstrom sind ihre Schlagworte. Ein Beispiel von vielen das Kanzlerduell im letzten Jahr, das zu größeren Teilen die Frage von Zuwanderung unter dem Gesichtspunkt der Bedrohung verhandelte. Ein Erfolg für die Neurechten.
Avenidas
Nun überlege ich, ob sich die Debatte um avenidas dazu fügt. Falls ja, wie. Denn nichts anderes geschieht beim Streit über das Gedicht: ein Kampf um Worte.
Aber worin liegt der Unterschied? Die einen nehmen Worte, um Menschen abzuwerten, die anderen, um Respekt einzufordern.
Und daher das ungutes Gefühl, wie die Debatte geführt wird – die Vehemenz, das Ausschließliche, das maximal Ermpörte.¹ Um es deutlich zu wiederholen: Ich teile die Interpretation der Gedichtkritiker nicht, halte die Forderung nach einer Entfernung des Gedichts für falsch und finde es problematisch, eben das Offene und Spannende von Kunst – deren unterschiedliche Auslegung – damit zu negieren.
Wenn aber Begriffe wie Stalinismus, Tugendterror, Genderwahn, Taliban, Zensur², Bücherverbrennung in dieser Debatte fallen, wenn die BILD einen Artikel veröffentlicht, in dem im Gleichklang mit Frei.Wild vor einer Kastration der Kunst gewarnt wird und Debattenbeiträge unter Titeln wie »Sind wir etwa im Regulierungswahn?« erscheinen, dann läuft etwas gewaltig schief.
Ein Beispiel: Hans-Peter Friedrich (CSU, Vizepräsident des Deutschen Bundestages) schreibt unter dem Hashtag konkretepoesie: »Wehret den Anfängen.« Die erste Antwort darunter lautet: »wehret den Anfängen? Gut, dann alle zurück auf Los und 09/2015…..« Von der Poesie zur Zuwanderungsdebatte in einem Tweet.
Natürlich geht es nicht darum zu sagen: Wer die Art und Weise der politischen Umsetzung der Zuwanderungsbewegung kritisiert, ist so einer. Und gar: Wer das Gedicht verteidigt, kann nur so sein. Niemals so einfach die Schubladen auf.
Sondern gerade zu schauen, wie ein solches Gespräch ausschauen könnte, ohne sogleich reflexhaft mit der Bushdoktrin zu reagieren: »Wenn du nicht für mich bist, bist du gegen mich«, ohne in ein empörtes Freund/Feind-Schema zu verfallen, in der irren Annahme, es gäbe nur zwei Seiten und keine Widersprüche auf beiden.
Stattdessen fragen: Was hat die Gedichtkritikerinnen zu ihrer Interpretation bewogen? Welche Rolle spielt die nahegelegene U-Bahn-Station? Die kurz zuvor geführte Debatte um Sexismus an (Schreib)Schulen? #MeToo? Die Rolle der Frau in der Literatur? Die Rolle des Manns? Wie ändert sich im Laufe der Zeiten der Blick auf Kunstwerke? Oder gerade nicht?
Auch zu fragen: Warum fallen die Reaktionen auf die Kritik, das Weißen so heftig aus? Welche Befürchtungen stecken dahinter? Wie definiert sich Kunstfreiheit? Wer argumentiert wie, wird argumentiert? Wo kann man aufeinander zu gehen, versuchen, die Perspektive des anderen, der anderen einzunehmen, ohne die Gegenüber allein als Patriarch oder Genderstern wahrzunehmen?
Yuval Noah Harari schreibt, dass das Erzählen von Geschichten den Menschen flexibel gemacht hätte. Wenn sich seine Geschichten ändern, ändert sich ihr Verhalten, ermöglicht so eine Entwicklung, vorwärts meistens. Die Aufklärung erlaubt die Wissenschaft. Während der Französischen Revolution ändert sich die Erzählung von gottgegebener Monarchie zu Herrschaft des Volkes und gleich darauf »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«. Irgendwann landet man über Mühen dennoch in der Demokratie.
Die Geschichte der Neurechten erzählt von Gräben. Die Debatte um avenidas ebenfalls. Es sind Worte. Aber Worte ändern alles.
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¹ Ich weiß nicht, ob es angemessen ist, beides in Verbindung zu bringen, ob es Schnittmengen gibt. Doch eine große Irritation ist, wie unterschiedlich Sprache gewertet wird. Einerseits ein Gedicht, das in seiner minimalen Ausführung jede Form der Interpretation erlaubt und dem eine von diesen vielen möglichen Interpretationen zum absoluten Vorwurf gemacht wird. Anderseits eine entfesselte Sprache, die jeden Anstand verloren hat – die Gaulands und Trumps, Straches und Storchs, Abgeordnete der AfD, die für Andersdenkende eine Grube ausheben und Löschkalk obendrauf streuen wollen, eine Sprache, die nur selten Konsequenzen hat oder zu halbherzigen Dementis führt. Wieso wird so unterschiedlich sensibel auf Sprache reagiert wird? Wird es das überhaupt? Wo finden welche Debatten statt? Warum und von wem und mit welchen Mitteln werden diese geführt?
² Zensur ist beispielsweise das Gesetz, das die polnische Regierung kürzlich verabschiedet hat und das unter Strafe stellt, von »polnischen Konzentrationslagern« zu sprechen