Florida. Silver Alert.

Silver Alert

Wenn wir auf dem Highway fahren, wundern wir uns über die Displays über den Straßen. Silver Alert steht dort und dazu wird ein Autokennzeichen gezeigt. Dann sind demenzkranke Rentner mit dem Auto unterwegs ist. Die besorgten Kinder, die besorgten Pflegekräfte haben die Behörden alarmiert. Dies geschieht in Florida so häufig, dass eine entsprechende Warnung eingeführt wurde, der Silver Alert.

Lachsfarben

Am wenigsten missfällt mir hier die Künstlichkeit. Sie scheint so natürlich, durchdringt jeden Stein, jedes Plastikteil, jeden aus Styropor gehauenen Piratenkopf auf einem künstlichen Schiff an einem künstlichen Pier in einer künstlichen Bay. Das Künstliche stört nicht, weil ich es erwartet habe, selbstverständlich dieser Kultur zurechne. Wäre es echt, wäre ich enttäuscht, zumindest an den erschlossenen Orten. Von Venedig erwarte ich keine Schönheit, sondern überteuerte Kaffeegetränke für Touristen, von Bad Ischl erwarte ich keine echte Sisi, sondern das aufgehübschte, von aller Vergangenheit gelöste Abbild. Die Frage ist, wie melancholisch macht mich das Künstliche? Die lachsfarbenen Fassaden der Hotels, der Appartements, der Wohnanlagen?

Sprechen

Laut reden viele der Amerikaner und selbstbewusst mit breiter Brust. Keine originelle Beobachtung, dass sie freundlich ihre oberflächlichen Konversationsversatzstücke schreien. Nur, woran erinnert mich die Sprachmelodie? Ich überlege und denke an Realityformate, in denen Protagonisten aus dem Rheinischen alles kommentieren, was sie sehen, tun und denken, das Offensichtliche verbalisieren, obwohl es unnötig, affektiert und aufdringlich scheint. Sie wollen gehört werden, vielleicht aus Sorge, dass sie ansonsten übersehen werden könnten, wenn sie nicht aussprechen, was jeder sieht, jede weiß. Einmal so auf den täglichen Smalltalk, die unscheinbaren und unwichtigen Begegnungen auf der Straße geschaut, verliert das Amerikanische seinen Schrecken, das Laute seine Lautstärke und ich empfinde fürsorgliches Mitleid mit denen, die nicht für sich, sondern mehr noch für eine imaginäre Kamera leben, deren einzige Funktion es ist, ihre Existenz zu bestätigen.

Heimat

Sie haben klingende Namen hier, der schönste ist »Sunshine Skyway«, einmal muss ein Roman so heißen. Doch einiges ist geborgt: St. Petersburg heißt so, weil ein russischer Aristokrat hier siedelte. Ein See mit Nationalpark heißt Lago Maggiore. Dort gibt es Alligatoren und Riesenschnecken. Die Namen sind geborgen aus der Heimat, damit das Fremde sich wie Heimat anfühlen kann. Selbst wenn in St.Petersburg niemals Winter ist und Palmen am Meer stehen und im Wasser Seekühe von den Schrauben der Yachten zerfetzt werden – russische Heimat für die, die hierher kamen.

Supermarkt

Von den Supermärkten bin ich wenig beeindruckt. Ich hatte einen Chor aus Walmartbediensteten erwartet, der mir einen Lied singt, mir, dem besten aller Kunden. Natürlich gibt es alle Produkte auch in der Geschmacksrichtung Peanutbutter und natürlich sind die Packungen so groß wie Eigenheime in Sachsen-Anhalt und natürlich stapelt sich alles bis unter die Decke, die eine Halle ist. Und natürlich gibt es immer alles zu kaufen; gefrorener Spinat und Babyphone und Iron-Man-Shirts und Gartenbedarf und dort schwimmen Fische im Aquarium und man kann sich seine eigene Oreopackungen zusammenstellen und dahinten eine Massage nach dem Einkauf in Anspruch nehmen. Doch spätestens beim zweiten Gang sucht man den gefrorenen Spinat mit Pinienkernen und den gibt es dann doch nicht und plötzlich schrumpft das Enorme zu einem Ort, an dem etwas fehlt.

Mall

Wäre die Mall eine Farbe, dann die verbrannter Bohnen. Oder sonst etwas, das einen Lust auf alles raubt. Ich gehe die Gänge entlang, habe vor zu konsumieren. Doch selbst der Comicshop mit den Superheldenwackelfiguren wirkt banal. Die freundlichen Gesichter fallen in sich zusammen, sobald der Kunde bedient ist, verschwinden sie hinter den Pads und Smarts. Niemand hier kann glücklich sein. Den Bedienungen ist es egal, ob sie hundert Gramm Fleisch in die Styroporbox hauen oder zwei Kilo. Fleisch ist genug da und Platz und Kleidungsgeschäfte und Franchiseunternehmen, lauter Brands, deren tote Augen sich im Magnetstreifen meiner Kreditkarte widerspiegeln. Am Eingang sitzt der Osterhase, 10$ kostet ein Foto mit ihm und das ist noch das Lebendigste, ein Mann in einem Hasenkostüm.

Snow Birds

Wenn wir zum Pass-A-Grille-Beach fahren, passieren wir Point Brittany. Hier strecken sich die Häuser viele Stockwerke hoch in den Himmel; kleine Appartements in einer engen Wohnanlage. Sie gehören den Snow Birds; Senioren aus den kalten Teilen Amerikas, die im Winter nach St. Pete kommen, im Sommer zurück in die Heimat kehren; wo sie sind, stets auf der Sonnenseite, ein ewiges Wohlfühlen wie Speck, überzogen mit Schokolade.

Paddeln

Ich paddle mit dem Kajak in der Bay. Das Wasser ist flach und klar, von den Villen gehen Piers ab, Hunde laufen darauf, kläffen nicht unfreundlich. Von der Straßenseite aus sind die Grundstücke hoch professionell gesichert, von der Wasserseite aus schwappen Wellen leichthin aufs Gras. Wenn ich einen Einbruch durchführen wollte, dann von hier, denke ich, als eine Rückenflosse wenige Meter neben mir auftaucht. Ich im Panikmodus, ich, der versucht zu erinnern, was bei einem Haiangriff zu tun ist. Nichts ist der beste Ratschlag. Dann springt er aus dem Wasser – es ist ein Delfin. Das Tier dreht sich in der Sonne, wendet mir den Bauch zu, taucht wieder ein. Ein zweiter, dritter Delfin kommen dazu. Zwei Armlängen entfernt. Für zehn Minuten begleiten sie mich, dann drehen sie ab ins offene Meer. Ich weiß: Wo Delfine sind, sind keine Haie. Dennoch schwindet die Furcht nicht: Wer im Kajak sitzt, weiß nicht, was hinter ihm geschieht.

Schilder

Die Schilder sind zahlreich. Sie hängen an den Kreuzungen und stehen dazwischen, wenige Piktogramme. Viel ist geschrieben, Buchstaben müssen addiert werden, um ihren Sinn zu entschlüsseln. Bald, nach der zehnten Kreuzung, dem fünften Gang nach Downtown werden sie zu Bildern. Aus diesem Schatten formt sich blitzschnell der Sinn, das Schild wird zum Schild.

Lange Straßen

Befremdlich, wenn Straßen keine Namen haben, sondern Nummern. Wenn sie so lang sind, kerzengerade durch die Stadt führen und so die Stadt in handliche Parzellen aufteilen. Nach wenigen Tagen schwindet das Befremden, eigentlich nach Stunden schon, als deutlich wird, dass so ein Verirren – vorausgesetzt, man kennt Start- und Zielpunkt – unwahrscheinlich ist. Immer geradeaus und irgendwann in die korrekte Nummer einbiegen. Das genügt zum Ankommen.

Waffen

Auf dem lokalen March For Our Lives ist es leidenschaftlich und entspannt. Die Cops machen Fotos von den Protestierenden, am Eingang bekommt man vorbereitete Protestschilder in die Hand gedrückt, darf mit Kreide gegen die NRA auf den Gehweg schreiben, sich für die Demokraten registrieren lassen. Ein sympathischer junger (weißer) Mann mit rotem Stern auf der chegrünen Mütze verteilt Flyer der Africa Peoples Socialist Party. Viele Familien, viele Kinder, viele Senioren, viele selbst geschriebene Botschaften. Ein vielleicht acht Jahre altes Mädchen hält ein Plakat hoch: Hey God, can we pretend I´m fetus so you´ll protect me? In den Reden wird oft Martin Luther King Jr. zitiert, noch öfter James Baldwin. Dennoch der Gedanke: Selbst wenn es gelingen sollte, die Idee, dass weniger Waffen die Wahrscheinlichkeit auf weniger Tote durch Waffen erhöhen werden, in der Bevölkerung und den Entscheidungsträger mehrheitlich als Standard durchzusetzen, bleiben immer noch 300.000.000 Waffen im Land. Ein friedlicher Nachmittag, Zuversicht und die Ahnung zukünftiger Tragödien.

Gummischutz

Auf den Beeten liegt zerriebener Gummireifen, kleine, gefärbte Stücke. Sie sollen das Verdunsten des Wassers verlangsamen, so den Zierpflanzen zu längerem Leben verhelfen.

Reifenwechsel

Auf dem Weg zu einer Rettungsstation für gerettete Laboraffen gerät ein Fremdkörper in den Reifen. Ein Loch entsteht. Wir nehmen die nächstmögliche Ausfahrt. Neben einer Tankstelle kommen wir zum Halten. Die Tankstellenbetreiberin eilt uns zu Hilfe. Innerhalb weniger Minuten wechselt sie das Rad. Als wir ihr fünfzehn Dollar für ihre Hilfe anbieten, lehnt sie entschieden ab. Wir fahren weiter zu den Affen; ein Ort, an dem gute Menschen mit den besten Absichten etwas tun, das uns falsch erscheint; die Tiere in engen Metallkäfigen, lauter Radiomusik (Creed!) ausgesetzt, Einzelhaltung. Tage später kaufen wir in einem Walmart einen Geschenkgutschein mit Grußkarte und lassen ihn der Tankstellenbetreiberin zukommen. Wir müssten nicht; sie und wir werden uns niemals wiedersehen, sie hat unseren ersten Dank schon ablehnt. Dennoch der Glaube, dass, wenn ihre gute Tat ebenfalls eine gute Tat zur Folge hat, weitere gute Taten folgen werden, dass es möglich ist, sich wechselseitig dem Selbstlosen im Menschen zu versichern.

Hunde

Hunde tragen hier Schwimmwesten.

Gated Communities

Einmal sind wir in einer Gated Communities. Am Tor Schranken und zwei Sicherheitsleute, die unsere IDs begutachten. Innen gleiches Haus an gleichem Haus, die Straße ein Kreis ohne Ausgang, Briefkästen. Kein Wind geht durch die Bäume, kein Kind spielt in dieser Sicherheit draußen, es kann an der Sonne liegen.

High and Dry

Als Schutz vor dem Hochwasser: Die Boote und Yachten im Parkhaus.

Geckosskelette

Kehren wir zurück, flüchten die Geckos vor unserem Auto von den erhitzten Steinplatten ins kühle Gebüsch. Nie bekommen wir sie zu fassen. Nur einmal: Als wir am letzten Abend auf der Mauer die offene Lampe mit den Geckoskeletten entdecken. Die Lampe ist eine Falle; auf der Suche nach mehr Wärme kriechen die Geckos unter den Lampenschirm, finden nicht mehr hinaus. In der Sonne gehen sie zugrunde, jedes der kleinen Reptilienskelette erzählt ein Drama.

 

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