31. Dezember | Rauhnacht
Wir sitzen im Garten, das Abendrot über uns längst verschwunden, in den Zonen der Stadt, wo Feuerwerk erlaubt ist, knallt es schon, in den anderen auch. Weil wir keinen Stift bei uns haben, flüstern wir die Dinge, die wir hinter uns lassen wollen, in Zettel hinein, ein Ritual der Rauhnächte. Wir werfen sie in die Feuerschale, die Papiere und damit die Dinge, von denen wir uns lösen wollen. Das Holz zur Glut runtergebrannt, reicht das Feuer noch für einen letzten Brand, fressen die Flammen die unsichtbaren Worte. Ich flüstere die gesamten Einträge, auch wenn das Papier dafür nicht reicht und das Feuer ebensowenig, ist es das, was ich vom neuen Jahr begehre.
Ansonsten: In Israel beginnen die vierten Coronaimpfungen für Immungeschwächte. Mehrere Länder melden Höchstwerte an Neuinfektionen.
30. Dezember | Pandemie der Geimpften

Unter »Pandemie der Geimpften« wird versucht zu belegen, dass die Impfung nichts taugt, dass Geimpfte öfter anstecken, öfter angesteckt werden, öfter im Krankenhaus landen, dass die Geimpften im Gegensatz zu den Ungeimpften Treiber der Pandemie sind etc.
In regelmäßigen Abständen tauchen ähnliche Schlagworte auf, Hashtags, unter denen gerechnet und argumentiert wird und aufgeregt vermeintliche Lügen aufgedeckt werden über: Hospitalisierungsrate, Belegung der Intensivbetten, Übersterblichkeit, Ansteckungsrate etc. Sie stellen scheinbar als gesichert geltende Erkenntnis in Frage und ziehen damit Grundsätzliches in Zweifel. Diese vermeintlichen Beweisführungen sind eine der mühsamsten Dinge in der Pandemie. Mühsam, weil es Kraft und Zeit kostet, zu verstehen, weshalb sie nicht stimmen, mühsam, weil diese Behauptungen doch oft einen wahren Kern enthalten und ich begreifen muss, weshalb sich dieser Kern anders darstellt als behauptet. Es ist ein Dauerfeuern mit selektiven Zahlen, Ausschnitten aus Graphen, absichtlich falsch verstandener Aussagen, dem Weglassen von Informationen. Es erfordert nicht viel Aufwand zu behaupten, weil die Lüge oft die einprägsame Geschichte ist und ihre Widerlegung an Mindestmaß an Bereitschaft erfordert, sich auf Komplexität einzulassen und wenn man ehrlich ist, wer hat dafür noch die Kraft?
Ansonsten: Diskussion um eine verkürzte Quarantänezeit, um einem Personalmangel in lebensnotwendigen Einrichtungen und Branchen vorzubeugen. Erstmals weltweit mehr als eine Million Neuinfektionen an einem Tag.
29. Dezember | Spaziergänge

Die Stadt München untersagt Coronaspaziergänge und droht Teilnehmenden mit Geldbußen bis zu 3000 Euro. Die Coronaspaziergänge gibt es lange schon, der erste Eintrag, in dem sie hier auftauchen, datiert auf den 10. Mai 2020. Solche Spaziergänge sind das scheinbar zufällige Zusammentreffen von Gegnerinnen der Coronamaßnahmen. »Spaziergang« ist ein Euphemismus, der Versuch, etwas harmlos und beiläufig erscheinen zu lassen, letztlich eine Relativierung. Etliche dieser Demonstrationen sind verbunden mit Gewalt gegen Journalistinnen und Ordnungskräfte, werden diese Veranstaltungen oft von Rechtsextremen organisiert und nutzen deren Strukturen.
Vorgestern verwendete ich das Wort »Empörungsgossip«, auch in Bezug auf solche Spaziergänge, eben die Absicht, sich nicht von jeder Demonstration triggern zu lassen. Dieses Vermeiden ist notwendig für meine mentale Gesundheit. Und zugleich ist es die Stetigkeit und Vielzahl solcher Spaziergänge, gerade in den letzten Wochen, die sich nicht einfach ignorieren lässt. Weil durch wöchentliche Spaziergänge eine Gewöhnung eintritt, eine Normalisierung von Übergriffen findet statt, eine Form von gewaltbereiter Routine entsteht, bei welcher der dritte Weg auf deine esoterische Nachbarin trifft und das ständig.
Heute ist es München, gestern war es Bautzen. Doch ist es anders, wenn 10.000 durch eine Millionenstadt ziehen, als wenn jede Woche 500 durch eine 15.000-Einwohnerstadt marschieren; mit ihren Fackeln und ihrem Schreien und den Nazis im Rücken, die Leute, denen man morgens im Kindergarten begegnet oder im Supermarkt, eine andere Form von Gefährlichkeit, wenn die Fackelträger in deiner Straße wohnen und wissen, wo du zuhause bist. Gestern haben Journalistinnen unter dem Hashtag #AusgebranntePresse die Gewalt gegen sie auf solchen Spaziergängen geschildert. Aus München wird immer jemand berichten. Aber die zwei lokalen Reporter aus Hildburghausen werden sich überlegen, was sie bereit sind zu riskieren.
Ein anderer Blick wäre: Unter anderen Umständen müsste ich dem Prinzip der Spaziergänge mit Wohlwollen begegnen. Eine Form des zivilen Widerstands, eine kreative Lösung, um sich trotz Versammlungsverbot zu versammeln, das Nutzen von lokalen Netzwerken, die trotz ihrer geringen Bedeutung in der Masse Wirkung entfalten. Eine eigentümliche Umkehrung findet statt: Die linke Seite verteidigt die Obrigkeit, die Rechte positioniert sich dagegen.
Dieser Artikel beschreibt sehr gut, weshalb das althergebrachte Bild von links / rechts eine Vereinfachung ist, die sich nicht so ohne weiteres über die Coronagegenwart legen lässt. Im Artikel fällt der Begriff des regressiven Rebellen, »Viele der regressiven Rebellen neigen zur Provokation, sie sind fast beständig im mentalen Modus antiautoritärer Meuterei gegenüber den liberalen Normen«. Es lohnt sich, diesen Text zu lesen, weil er viele der irritierenden Gegensätzlichkeiten dieser Zeit einordnet.
In meinem Bekanntenkreis gibt es solche, die auf Spaziergängen mitlaufen, andere, die Videos teilen, um das Bild einer Massenbewegung zu suggerieren. Verbunden ist das stets mit einer vermeintlich unpolitischen Haltung: man sei weder links noch rechts, sondern nur der Sache selbst wegen dabei und dafür. Das Rechtsextreme wird schon wahrgenommen, aber abgetan; da laufen nur ein paar Idioten mit, der Rest sind normale Leute, heißt es.
Und vielleicht ist es diese beflissene Selbsttäuschung, die diese Spaziergänge so gefährlich macht; die Naivität, die Unfähigkeit, genau hinzuschauen, das bewusste Ignorieren von Strukturen, das achselzuckende Akzeptieren der »paar Idioten«, die blinde Bereitschaft, sich vereinnahmen lassen, das Hinnehmen von Gewalt, die somit ein Teil der Normalität wird, man selbst als Spaziergänger zu genau dem Lemming wird, den man in dem anderen so gerne sieht. Und am Ende brennen die Fackeln und Journalisten werden durch die Straßen gejagt und die eigenen Kinder in den Pfeffersprayregen geworfen und hinter den Transparenten reiben sich die mit den Armbinden, auf denen »Heimatschutz« steht, die Hände und man frohlockt gemeinschaftlich, weil sich ein solcher Spaziergang doch ein bisschen sehr nach der Revolte anfühlt, die man so gern möchte.
Ansonsten: Laut einem Sprecher des Bundesinnenministeriums stellt die steigende Zahl kleiner und spontaner Coronakundgebungen die Polizei vor Probleme. In der chinesischen Stadt Jingxi werden 4 Männer, die sich nicht an die Coronaregeln gehalten haben, in einer Art öffentlicher Pranger durch die Straßen geführt. In der chinesischen Stadt Xi’an kommt es nach einer Woche Lockdown zu Versorgungsproblemen. Nach dem Besuch der Diskothek Joy müssen 820 Besucherinnen in Quarantäne. Laut Untersuchen erkennen Antigen-Tests Omikron nicht so gut wie die anderen Mutanten. In Deutschland sinkt die Inzidenz auf 205. Über 200.000 Neuinfektionen in Frankreich. Mit 440.000 Neuinfektionen an einem Tag wird ein Höchstwert in den USA gemeldet. Die Zahl der weltweiten Neuinfektionen erreicht den höchsten Wochenwert seit Pandemiebeginn.
28. Dezember | Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass der Bundestag unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer Triage treffen muss und allein, dass es eine richterliche Anordnung dafür braucht, lässt mich frösteln.
Ansonsten: Frankreich meldet mit 180000 Infektionen einen Höchstwert. Großbritannien meldet mit 120000 Neuinfektionen einen Höchstwert. Höchstwerte auch in Portugal, Italien und Griechenland. In Deutschland fällt die Inzidenz auf 215, 21000 Neuinfektionen werden gemeldet. Einer der Mitfavoriten bei der Darts-WM muss wegen einer Coronainfektionen aufgeben. Das Ziel von 40% Geimpfter 2021 weltweit wird laut WHO verfehlt. Deutschland bestellt eine Million Packungen des Coronamedikaments Paxlovid.
27. Dezember | Empörungsgossip

Die Pandemie ist vieles. Auch Unterhaltung. Personen, die für alles andere als Zerstreuung stehen, werden in der Pandemie Teil einer Art Soap Opera, der ich amüsiert folge, weil ich die nebensächlichen Entwicklungen mit Interesse wahrnehme, Gossip wie in den bunten Blättern. Der Leiter des Robert-Koch-Instituts fährt dem neuen Gesundheitsminister in die Parade, werden sie sich auf der nächsten Bundespressekonferenz versöhnen? Karl Lauterbach zählt Jens Spahn wegen zu wenig bestellter Impfdosen an, wie verteidigt Paul Ziemiak seinen Parteilkollegen? Karl Lauterbach wird von vielen gefeiert, wer schreibt ihn nach wenigen Tagen im Amt ab, weil er sich keinen Omikron-Lockdown vor Weihnachten traut? Lisa Fitz spricht von 5000 Impftoten, welche Zeitungen werden ihr ausgiebig Gelegenheit zum Weitersprechen geben? Volker Bruch wird zum peinlichsten Berliner gekürt, mit welcher Videobotschaft wird er sich zu Wort melden? Die Universität Halle will Alexander S. Kekulé von der Lehrtätigkeit ausschließen, welcher Virologe wird dem Kollegen zur Seite springen? Welchen Politiker wird Marietta Slomka heute ins Corona-Kreuzverhör nehmen?
Auch Empörung ist Unterhaltung. Die seltsamen Aussagen dieser seltsamen zornigen Menschen, die in Freiberg, Hildburghausen und Schweinfurt demonstrieren mit ihren kläglichen Versuchen, ihr Handeln in einem rechtschaffenen Licht erscheinen zu lassen. Eine absurde Wendler-Telegram-Nachricht. Eine Politikerin, die fordert, dass Polizisten Pfefferspray gegen Demonstranten einsetzen sollen. Demonstrantinnen, die ihre Kinder beim Durchbrechen von Polizeiketten mitnehmen, Kind wird verletzt, Anzeige wegen Kindeswohlgefährdung und im Telegram wird verbreitet, dass die Staatsknechte wehrlose Babys angreifen, um ihre Diktatur durchzusetzen. Der NRW-Gesundheitsminister, der in einem Interview besorgt berichtet, dass »das Neue an dieser Omikron-Variante ist, dass sie sich über die Luft überträgt.«
Nicht alles davon ist unwichtig. Nicht alles erzählt nichts. Manches sagt viel über die momentane Gegenwart aus, vielleicht mehr, als ich jetzt ahne. Aber vieles ist Coronaempörungsgossip, dient der Ablenkung und Zerstreuung, was nicht einmal verkehrt sein muss, weil ich etwas, das seit zwei Jahren mein Leben bestimmt, natürlich nicht nur auf einer rationalen Ebene wahrnehmen kann. Die handelnden Personen werden Teil meiner Welt, ich schreibe ihnen Eigenschaften zu und folge ihrer Reise durch diese Zeit. Auch die Muster der Empörungen passe ich an, ich weiß, worauf ich reagiere, was mich wie triggert, ich suche diese Muster und Variationen davon, weil nicht alles Ernste gleich ernst sein kann.
Ansonsten: Coronafall im Ischgler Lokal Kitzloch, das im Februar 2020 der erste große Ausgangspunkt für viele Infektionen war. Einen Tag nach Übergriffen auf einer Coronademonstration in Schweinfurt stehen einige Teilnehmerinnen vor Gericht. Die Bundesregierung verschiebt das Ziel von 80% Erstimpfungen auf Januar. In New York wird ein vierfacher Anstieg der Krankenhauseinweisungen bei Kindern unter 18 Jahren wegen Omikron gemeldet. Frankreich meldet 100000 Neuinfektionen an einem Tag. Mit 162 neuen Infektionen an einem Tag meldet China die bislang höchste Zahl des Jahres.
26. Dezember | dreißig Millionen
Dreißig Millionen Boosterimpfungen, der größte Teil davon in den letzten Wochen. Eine Zahl, die alle Aufmerksamkeit verdient, weil sie viel sagt über die Relationen in der Pandemie. Jeden Tag werden mehr Menschen geimpft, als seit Monaten Menschen auf die Straße gehen gegen das Impfen. Und zugleich sind solche Vergleiche auch Augenwischerei: Denn damit die Impfrechnung am Ende aufgeht, braucht es auch ein Teil derer, die heute noch Polizeiketten durchbrechen. Da nutzen alle Relationen nichts.
25. Dezember | Dezembergegensätzlichkeiten

In den Dezemberwochen eine seltsame Gleichzeitigkeit von Gegensätzlichkeiten. Das unerwartet frühe Stagnieren und später Sinken der Zahlen der 4. Welle beim gleichzeitigen Auftauchen von Omikron und der Annahme bzw. woanders schon stattfindenden rapiden Steigen der Zahlen. Die große Bereitschaft für Dritt- und Kinderimpfungen und zugleich die lokalen »Spaziergänge« und Demonstrationen, die mit zunehmender Stetigkeit, Intensität und Wut gegen das Impfen angehen. Das Einsetzen einer neuen Regierung und Personen, mit denen sich Erwartungen für einen anderen Umgang mit der Pandemie verbanden und einer seltsam anmutenden Behäbigkeit im Blick auf Omikron. Die Vorweihnachtszeit, die glitzerte und versprach wie immer und all die abgesagten Weihnachtsroutinen. Die Aufgeregtheit, mit der alle paar Tage unwichtiger Coronaempörungsgossip hochkocht und die seltsame Gelassenheit, mit der hingenommen wird, dass Ämter angesichts der Überlastung nicht mehr richtig arbeiten (können) und es die nächsten Wochen keine verlässlichen Zahlen geben wird. Bei mir eine grundsätzliche Erschöpfung und dennoch weiterhin die ungesunde Coronagetriebenheit. Die Falsch-Positivs in den letzten Wochen und die Tage dazwischen, die sich wie die Ausnahme anfühlen. Das Jahresende, das einen natürlichen Abschluss bildet und das Wissen darum, dass dieses Ende ein Auftakt sein könnte. Das gleichzeitige Vertrauen und Misstrauen in die Modelle. Dieser Dezember war schwer zu handhaben, schwer, einen Blick zu finden und sich ein Bild zu machen in den ständigen, stetigen Wechseln.
Ansonsten: Die Inzidenz sinkt weiter, nun auf 243. Das Landeszentrum für Gesundheit NRW teilt mit, dass es während der Weihnachtsfeiertage und Silvester keine Meldungen ans Robert Koch-Institut übermittelt. In mittlerweile allen Bundesländern ist Omikron nachgewiesen. In Düsseldorf beginnt über die Weihnachtstage ein 81-stündige Corona-Impfmarathon, geimpft wird rund um die Uhr im Drei-Schicht-Betrieb. Der Zentralverband der Geflügelwirtschaft warnt, dass es bei der Omikronwelle zu einem Rückstau von schlachtreifen Tieren in den Ställen kommen könnte.
23. Dezember | mild

Mehr und mehr Berichte, die von einem milderen Verlauf Omikrons sprechen, weniger Krankenhauseinweisungen, auch bei Ungeimpften. Grund dafür soll sein, dass sich mehr Viren in den Bronchien befinden, was für eine größere Ansteckung sorgt, dafür weniger tief in die Lunge gehen, weshalb die Infektion nicht so schwer verläuft.
Das lese ich und reime mir zusammen und bin – bei allem Wissen um die Folgen einer großen Ansteckungsrate – milde erleichtert. Es klingt nicht nach dem Schlimmsten im Schlimmen, sondern wie ein Silberstreif, so reime ich mir das am Tag vor Weihnachten zusammen, nichts ist gewonnen, aber zumindest, immerhin.
Dabei lasse ich die Einträge der letzten Wochen Revue passieren. Und frage mich, ob es diese gebraucht hätte; all die Worte über die Mutante, die aufgenommenen Informationen, Mutmaßungen, die Besorgnis. Hätte ich mir das ersparen können?
Ich frage mich: Hätte ich mir dieses Hinbegeben in die Coronawelt ohne das Schreiben nicht längst schon gespart? Hätte ich ohne das Schreiben Anfang Dezember von einer Mutante gehört und mich von da an lose und leidenschaftslos einigermaßen auf dem Laufenden gehalten, vielleicht nicht einmal das?
So aber ich tauche jeden Tag in die Texte und Szenarien, verstehe nur rudimentär, bilde mir dennoch einen Standpunkt dazu, weil das Schreiben es erfordert, weil ich mich der Arbeit von fast zwei Jahren verpflichtet fühle. Wenn ich mir an diesem Tag vor Weihnachten etwas wünsche, dann, dass diese zwei Jahre bald vergangen sein werden und das Gefühl einer Notwendigkeit abklingt, dass es keinen inneren Drang mehr gibt mich informieren zu müssen, die Coronawelt nur eine von vielen ist, die mein Schreiben und Sehen beschäftigt.
Ansonsten: Nach 63 lokalen Infektionen verhängt China einen Lockdown über die 13-Millionen-Stadt Xi’an, jede Familie kann ein Mitglied bestimmen, das alle zwei Tage einkaufen gehen darf. Händler schätzen den Umsatzrückgang wegen der 2G-Reglung im Weihnachtsgeschäft auf 30%.
22. Dezember | prep

Im ersten Eintrag der Coronamonate versuchte ich mich einzudecken mit Vorräten, weil ich gelesen hatte, dass schlimme Zeiten bevorstehen könnten. Schnell hatte ich die Sorge vor einer Versorgungsknappheit abgelegt, der Supermarkt stand in jeder Welle offen, die kleinen Scharmützel um bestimmte Waren (Toilettenpapier, Nudeln, Hefe) waren eher letzte Sätze im Ansonsten als Grund echter Befürchtungen.
Nun erwarten »Fachleute Millionen Arbeitsausfälle durch Omikron« und rechnen damit, dass »Menschen mit systemrelevanten Berufen zeitweise nicht mehr arbeiten können werden«, in England kommt es zu Personalengpässen und der Innenminister von NRW rät zu Taschenlampe, batteriebetriebenen Radio, geladener Powerbank und »natürlich« ein Lebensmittelvorrat für mehrere Tage. Natürlich ein Lebensmittelvorrat, ein natürlich, die normalste Sache der Welt.
Schon im Februar 2020 merkte ich, dass ich zum Prepper nicht geeignet bin. Geändert hat sich seitdem nichts. Der Gedanke, dass in wenigen Wochen eine Situation eintreten könnte, in der ich nicht über ausreichend Lebensmittel verfüge, in der Strom, Heizung und Internet ausfallen, erscheint mir, trotz aller Annahmen über Omikron, absurd. Es erscheint absurd, mich ab heute auf eine solche Situation des Mangels einzustellen. Gründe gibt es viele; Scham, Trotz, Aberglaube, Furcht, Zuversicht. Das Zurückziehen in den letzten beiden Jahren war bei aller Schwere immer mit Komfort verbunden; ich habe mir um vieles Gedanken machen müssen, aber nie, wie ich an Wasser oder Wärme komme. Würde sich das ändern, wäre das etwas Existenzielles, Grundlegendes – das System funktioniert nicht mehr und kann nicht mal meine Grundbedürfnisse abdecken. Ich wäre auf mich geworfen, die Katastrophe würde dem Bild entsprechen, das ich aus den Geschichten über Katastrophen kenne. Darauf will ich mich nicht einlassen, denke ich.
Also sehe ich nach Südafrika, wo die Omikronwelle schon am Abklingen ist, lese von den Berichten über die milderen Verläufe, lese auch von den Besonderheiten eines jeden einzelnen Landes mit Genesenen, Geimpften, der Altersstruktur, lade meine Powerbank auf und bin ansonsten nicht bereit, einem kommenden Mangel heute schon entgegenzutreten.
Ansonsten: Die Inzidenz in Deutschland sinkt unter 300. Mehr als 100000 Neuinfektionen in den Großbritannien. Großbritannien verkürzt die Quarantänezeit von 10 auf 7 Tage. Die Anti-Covid-Pille Paxlovid erhält in den USA die Notfallzulassung. In Italien singen drei bekannte Virologen auf die Melodie von Jingle Bells den Impf-Aufruf-Song Sisivàx.
21. Dezember | Weihnachtsimpfen

In der Weimarhalle, dort, wo ansonsten um diese Zeit »Mascha und der Bär« oder Weihnachtskonzerte gespielt werden, findet heute ein »Weihnachtsimpfen für Groß und Klein« statt, inklusive kleiner Überraschung für jedes Kind.
Gegen Abend verkündet die Regierung… ja, was eigentlich? Wie ist es zu nennen, wenn das meiste bleibt wie bisher; etwas mehr Kontaktbeschränkungen nach Weihnachten, Tanzverbote und ansonsten Impfaufrufe? Verschärfte Maßnahmen?
Irgendwie ist es auch egal, denke ich, was werden Maßnahmen schon bringen, dann käme Omikron eben etwas später, so eben etwas früher und nehme den Gedanken sofort zurück, weil ich ja weiterhin weiß, dass jeder gewonnene Tag dennoch etwas ausmacht, gerade bei einer Virenvariante mit einer Verdopplung aller drei Tage und überlege dann, warum es mir so gleichgültig ist, was beschlossen wird, weshalb ich so wenig erwarte, vielleicht, weil diese Beschlüsse seit fast zwei Jahren Teil der Zeit sind und ich sie leidenschaftslos hinnehmen muss, damit ich sie noch hinnehme, vielleicht, weil ich weiterhin die fatalistische Annahme habe, dass das Kommende unausweichlich ist.
Und dann stehe ich bei der Weimarhalle und sehe, wie Eltern mit ihren Kindern zum Weihnachtsimpfen gehen, manche eilen, manche zögern, ein Vater nimmt seine Tochter in die Arme bei Temperaturen um die Null und ich denke, dass weiterhin jeder Tag zählen muss, auch wenn es nach fast zwei Jahren und unendlich vielen Bundespressekonferenzen mir nicht mehr sofort einleuchten mag.
Ansonsten: Die Regierung beschließt etwas verschärfte Maßnahmen. Das Robert-Koch-Institut fordert sofortige »maximale Kontaktbeschränkungen«. Die europäische Arzneimittelbehörde empfiehlt die Zulassung des Proteinimpfstoffs von Novavax. Bei mehreren Coronademonstrationen werden Polizisten verletzt, u.a. wird in Annaberg-Buchholz ein 60jähriger Polizist von 25 Personen eingekesselt und zusammengetreten. Nachdem in Shanghai das Amt zur Kontaktverfolgung eine Liste von Orten veröffentlichte, an denen sich ein japanischer Infizierter aufhielt, wird diese Liste nun als Restaurantführer für authentisches japanisches Essen in der Stadt verwendet.
20. Dezember | gleich zwei

efühlt immer eine Woche zu spät) und manche treffen sich montags mit Kerzen auf den Jenaer Holzmarkt und jemand aus der deutschen Unterhaltungsbranche haut ein irres Coronading raus und bekommt dafür recht viel Aufmerksamkeit und alles ist wie immer, in jeder Schleife perfide Updates, diesmal Impfgegnerinnen, die Eltern, die mit ihren Kindern ins Impfzentren gehen, fragen: »Wollen Sie gleich zwei opfern?«
19. Dezember | Hotzenplotz
Mein Sohn spielt bei einem Freund. Geschlossener Innenraum, mehrere Stunden. Währenddessen erfährt der Vater, dass sein Test positiv ausgefallen ist. Ein Anruf, wir holen unser Kind ab. Und nun? Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung hoch. Doch wann ist diese nachweisbar? Jetzt schon? In den nächsten Tagen erst? Jedenfalls: selbstauferlegte Quarantäne. Absagen für die nächsten Tage, bis ein PCR-Test (oder zwei) Gewissheit bringt.
Und bis dahin? Wie verhalten? Wir sind dreifach geimpft. Unsere Kinder nicht einmal. Mindestabstand unmöglich, wie soll das gehen, Mindestabstand zu den eigenen Kindern? Wir sorgen uns, wir lüften und lüften und lüften und abends lese ich Räuber Hotzenplotz mit Maske im Gesicht. Es fühlt sich nur ein kleines bisschen vernünftig an.
Ansonsten: Der Expertenrat veröffentlicht eine Stellungnahme zu Omikron, schreibt darin: »Neben dem konsequenten Handeln ist stringentes Erklären entscheidend. Die Omikronwelle trifft auf eine Bevölkerung, die durch eine fast zweijährige Pandemie und deren Bekämpfung erschöpft ist und in der massive Spannungen täglich offenkundig sind.«
18. Dezember | die Wand

Katastrophenfall, Verdopplungszeit, R-Wert 7.2, Überlastung, rapide steigend, Rekordwert, extreme Secondary Attack Rate, Kontrollverlust, Dynamik – all diese Worte zu Omikron. Vor allem: die Wand. Das ist das Bild der Tage. Omikron = die Wand. Keine Kurve mehr. Sondern ein so steiles Ansteigen der Infektionszahlen, dass die Verbindung zwischen den Punkten wie eine Wand anmutet.
Was mit diesem Bild einhergeht, ist eine apokalyptische Vorstellung. Das, was seit Beginn der Pandemie versucht wurde zu verhindern, tritt mit dieser Wand ein: sehr viele werden zur gleichen Zeit infiziert sein. Diese Wand, das ist die Summe dieser Worte, wird in den nächsten Wochen geschehen, diese Wand, sagen die Worte, ist unabwendbar.
Ich weigere mich, das zu schreiben. Weigere, wieder schwarz zu sehen, wieder das Schlimme anzunehmen. Gerade jetzt, im Fallen der vierten Welle, unter der Weihnachtsbeleuchtung, am Ende eines Jahres. An diesem Ende will ich den Abschluss des erschöpfenden und in vielen Belangen beschissenen Alten feiern. Das Ende soll kein Anfang von etwas Neuen sein, etwas Neues wie die Wand, die das Bisherige bei allem übertreffen könnte.
Allein dieser letzte halbe Satz. Das Bisherige übertreffen. Panikmache. Ich verwende voller Pathos apokalyptisch, hole die vermeintliche schwere Zukunft in meine Gegenwart und belaste mich damit doppelt.
Was wäre die Alternative? Die Expertinnen ignorieren, die Kurven und Modelle, die Meldungen aus den Ländern, die sind, wo Deutschland sehr bald sein könnte? London, wieder London als Katastrophenort der Pandemie, London, wo wegen der vielen Neuinfektionen die Einsatzbereitschaft von Feuerwehr und Krankenhäusern zu kippen droht.
Über all diesen Berichten das Wort »unabwendbar«. Die Ansteckungsrate der Mutante derart hoch, dass ein wirkungsvoller Schutz ein radikales Beschränken über lange Zeit wäre. Eine Woche vor Weihnachten die Geschäfte schließen? Die Schulen schließen? Über Weihnachten keine Besuche? In wenigen Wochen die Impflücken bei den Kindern und den Impfverweigerinnen schließen?
Weihnachten ebenso nah wie Omikron als dominante Variante, ein Fest vor der Wand, dann der Januar. Wie soll dieser Januar aussehen? Soll ich glauben, was sich abzeichnet, mir all die Worte zu Herzen nehmen, den Warnungen und Vorhersagen der Expertinnen trauen? »Omikron fühlt sich an wie ein Endgame«, habe ich gestern geschrieben. Es fühlt sich an, als würde auf jeden Fall geschehen, was nie geschehen sollte. Und das sehr bald. Da ist sie, die Panikmache. Da ist, wonach es aussieht.
Ansonsten: Um Omikron zu bremsen, verhängen die Niederlande einen Lockdown bis Mitte Januar. Wegen der rapiden Ausbreitung der Omikron-Variante erklärt London den Katastrophenfall. Diskussion darüber, ob die von der Kabarettistin Lisa Fitz in einer Fernsehsendung genannte falsche Zahl von 5000 deutschen Impftoten unter den Begriff der »Meinungsfreiheit« fällt.
17. Dezember | Endgame

Mehrere Länder melden Höchststände an Neuinfektionen. Die Zuwächse sind groß, die Vermutungen über die hohe Ansteckrate von Omikron scheinen sich zu bestätigen. Eine Verdopplungszeit der Ansteckungen aller 2-3 Tage wird angenommen. In Deutschland arbeitet diese Verdopplungszeit gegen die fallenden Deltaansteckungen. Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass es hierzulande anders kommen sollte, dass Omikron mit seinen Eigenschaften nicht zur vorherrschenden Coronavirusvariante werden sollte.
Von allem, was ich über Omikron lese, fühlt sich Omikron wie ein Endgame an, wie eine finale Auseinandersetzung mit dem Virus, die mehr als bisher fordern wird, welche die Zahlen und damit – trotz eines möglichen milderen Verlaufs – auch die Folgen in unbekannte Höhen treiben wird, sehr bald schon, komprimiert auf eine kurze Zeitspanne. Die Modellierer skalieren, rechnen die Zahlen anhand der verfügbaren Informationen hoch. Worst-Case-Szenarios werden erstellt, selbst das Best-Case-Szenario lässt mich still den Blick senken.
Zugleich frage ich mich, ob sich diese vermute Wirkung von Omikron in den Zahlen wiederfinden lassen wird. In der vierten Welle lag der offiziell vermeldete Höchststand bei 80000 Neuinfektionen am Tag. Die Labore waren überlastet, Landkreise meldeten nicht mehr. Wie viele Meldungen an einem Tag sind in Deutschland technisch überhaupt möglich? In der zweiten Welle im letzten Jahr blieben die Zahlen über Weihnachten, Neujahr bis Mitte Januar unvollständig. Es wurde weniger getestet, weniger Ämter waren besetzt, weniger wurde gemeldet.
Beides könnte bei Omikron zusammenkommen. Der Blindflug über Weihnachten und die technische Obergrenze. Die Mutante könnte in zwei Wochen schon eine verheerende Wand sein und es könnte sein, dass die Zahlen das nicht abbilden.
Trotz der hohen Zahlen werden viele keine oder nur wenige Folgen spüren. Die Folgen geschehen in den Krankenhäusern. Was dort geschieht, bleibt unsichtbar oder anekdotisch. Wird sich die Wucht von Omikron dadurch bemerkbar machen, dass sich mehr Menschen als bisher in Quarantäne befinden und deshalb mehr Stellen im öffentlichen Leben nicht besetzt sind? Wird jeder mehr Geschichten von Kranken aus dem näheren Umfeld kennen? Was werden die Zahlen von Omikron erzählen, was werden wir erzählen?
Ansonsten: Die 7-Tages-Inzidenz in Deutschland sinkt weiter. Der 7-Tages-Durchschnitt bei den Impfungen liegt bei über einer Million.
16. Dezember | Was spricht gegen jetzt?

In den letzten Tagen in Gesprächen mit Geimpften mehrmals Sätze, die verschämt halbgesagt abgebrochen werden: Und was schon, wenn es geschieht? Die Frage ist doch nicht ob, sondern wann. Irgendwann krieg ich es doch sowieso. Was spricht gegen jetzt?
Ich zögere, diesen Eintrag zu schreiben. Weil es von Anfang an Kernanliegen meiner Pandemie war, ein Anstecken zu vermeiden. Was auch sonst. Und dennoch der Gedanke: Ich bin gerade geboostert, gäbe es einen besseren Zeitpunkt dafür, meine Antikörper auf einem All-Time-High.
Es ist eine Fiktion, ein letztlich dummer Gedanke, der, gäbe es hier eine Kommentarfunktion, zu Recht dutzendfach Widerspruch hervorrufen müsste, dazu die notwendigen Argumente; das (Rest)risiko, die Kinder, all die Anderen etc.
Ich denke an die nicht geschriebenen Kommentare und stimme zu. Aber Omikron wird die Karten neu mischen, wird das irgendwann sehr schnell sehr viel näherrücken. Und es existiert noch ein anderes Irgendwann. Irgendwann wird es eine Form Normalität geben müssen, die nicht von Angst vor Corona besetzt ist, wird es Zeit ohne Gs und Masken und Abstand geben müssen.
Wenn die Coronamonate irgendwann enden – und das werden sie müssen, das werden sie müssen, das werden sie müssen – dann werde ich mich jederzeit freiwillig so verhalten, dass ich mich höchstwahrscheinlich anstecken könnte. Ich werde kaum noch etwas meiden und mir untersagen wegen Corona, kaum etwas wird mir wegen Corona untersagt werden.
Vielleicht muss für mich, muss für alle die Ansteckung Teil eines Jahreszyklus sein? Das wäre etwas wie endemisch, etwas, auf das die Hoffnung gerichtet ist. Wenn der Sars-CoV2-Virus endemisch ist, ist es geschafft, das ist so ziemlich das einzige Ziel, das als Ziel definiert ist. Es gibt notwendigen Widerspruch dagegen, der sagt, dass endemisch eben nicht keine Gefahr mehr bedeute, sondern zyklische Gefahr und das könne keiner ernsthaft wollen.
Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ein realistisches Ziel ist, das Virologen und Neurologen abnicken würden. Ich weiß nur: Die Coronamonate müssen enden.
Im Grund geht es darum, die ständige Sorge, das dauerhafte Ducken, die permanente Passivität zu verlassen. Die Wochen, mehr als je zuvor, fühlen sich an wie eine Jagd. Ich bin der Gejagte. Jedes Mal, wenn ich schneller werde, ein gutes Versteck gefunden habe, mir eine stärkere Rüstung zugelegt habe, holt der Jäger auf. Die Jagd macht mich müde. Ich laufe seit Monaten mit Kraft, die nicht mehr vorhanden ist. Ich möchte mich umdrehen, mich dem Jäger stellen und sagen »Schieß, damit es vorbei ist, ich bin geschützt, du kannst mir nichts anhaben, aber lass mich nicht länger mehr rennen müssen.«
Weil es unzureichende Metaphern für alles gibt und für Pandemien, Ängste und Erschöpfung sowieso im Überfluss, geht nichts von diesen Gedanken auf und trotzdem irren sie umher, in den Gesprächen, in diesem Eintrag, jetzt.
15. Dezember | porös
Heute ein Tag, an dem die vielgelobte Resilienz zusammenschrumpft auf eine poröse Schicht zweckmäßiger Vernunft als Rüstungsrest gegen die Coronawelt.
Ansonsten: Laut neuem Gesundheitsminister werden den kommenden Monaten Impfstoffe fehlen, weil vom alten Gesundheitsminister nicht genügend geordert wurden. In mehreren EU-Ländern laufen Corona-Impfkampagne für Kinder an. Laut Pfizer senkt das entwickelte Covid-Medikament das Risiko eines Krankenhausaufenthalts um 89%, wenn es innerhalb von 3 Tagen nach den Symptomen verabreicht wird. Mehr als 800000 Coronatote in den USA.
14. Dezember | Kimmich III
Der gestrige Eintrag war auch eine Form von Selbstschutz, der Vergewisserung, wo ich stehe, dem Auswaschen und Ablegen von Eindrücken und Gedanken, die mir alle ersparen könnte, wenn ich die ganze Querdenkerbewegung ausblenden würde. Vermutlich wäre das ohnehin das Beste, weil dem kleinen Teil von Anfang an viel zu viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wie oft ich das schon geschrieben habe und dennoch darüber geschrieben habe.
Zugleich gibt es diese Gruppen und Gedanken und Taten, und anders als ich das in einem Eintrag vor einem halben Jahr schrieb, hat sich das nicht erledigt, sondern scheint an Lautstärke zu gewinnen, auch, weil es längst und niemals nur um die Maske oder einen Stich in den Oberarm ging, das eigentliche Ziel war spätestens seit dem 29. August 2020 für alle offensichtlich.
Und mir ist klar, dass alles komplizierter ist. Dass es – und das habe ich schon im März 2020 geschrieben – Folgen der Beschränkungen gibt, die ich grotesk finde, solche, die mir Angst machen, die ich unverhältnismäßig fand und finde. Wenn in Stralsund auf dem Weihnachtsmarkt der Weihnachtmann wegen fehlender Maske abgeführt wird, dann mag das den Verordnungen einer pandemischen Notlage entsprechen. Doch ist es richtig, so zu handeln, nicht mal die Bilder mitzudenken, die dabei entstehen? Der ganze pathetische, abgekartete Gestus aber, der solchen Bildern werweißwas unterstellt, dafür ist der Detektor gedacht.
Bei Joshua Kimmich springt er nicht an. Nie hätte ich gedacht, dass ein Fußballspieler einen eigenen Erzählstrang in einer Pandemie bekommen könnte. Im Oktober erklärt Kimmich in einem Interview, dass er wegen Bedenken noch ungeimpft sei. Später muss er in Quarantäne, später infiziert er sich, später erkrankt er und erklärt im Dezember, dass er nach überstandener Krankheit vorerst keinen Sport auf hohem Niveau ausüben könne, weil die Krankheit Spuren hinterlassen habe. Und er erklärt, dass er – sobald ihm das möglich sei – sich impfen lassen werde.
Der erste Kimmich-Eintrag schrieb von den Langzeitfolgen, vor denen der Sportler Bedenken hatte. Diese geäußerten Bedenken führten dazu, dass in aller Öffentlichkeit erläutert wurde, wie Studienergebnisse bei der Impfstoffforschung zustande kommen und was Langzeit in Langzeitfolgen bedeutet. Im zweiten Eintrag ging es um die Art und Weise, wie über Kimmich gesprochen wurde. Auch heute viele Varianten des Redens über den Krankenfall; Genesungswünsche, Häme, Schadenfreude, die Frage, ob und bis zu welcher Schwere einer Erkrankung Genugtuung angemessen ist, Vorwürfe in verschiedene Richtungen, ein Rauschen, ein Instrumentalisieren.
Jemand schrieb: Kimmich könnte zum Helden der Pandemie werden, wenn er sich öffentlich hinstellt und sagt: Ich habe mich geirrt. Ich lasse mich impfen und empfehle es jeden anderen auch. Das muss er nicht. Im Gegensatz zu denen mit Fackeln hat er sein Nichtgeimpftsein nicht als großen Gestus vor sich hergetragen, hat das Ungeimpfte nicht zu seiner Wut oder Identität gemacht. Er wurde gefragt, er hat geantwortet, über seine Bedenken gesprochen. Ein beiläufiger Vorgang, der nur Bedeutung durch seine Prominenz gewann. Und doch beispielhaft stand für nicht wenige, die ebenfalls (wenig) informiert waren über Langzeitfolgen und Totimpfstoffe.
Jetzt hat Kimmich, ebenso beiläufig, aufgrund eigener Erfahrungen und dem Einholen von Informationen seine Meinung geändert. Ohne Fackeln, ohne Diktaturgeschwafel, ein fast schon spröder Vorgang, gut in diesen aufgepeitschten Tagen.
Ansonsten: Die Inzidenz sinkt weiter. Diskussion über die Abschaffung der Testpflicht für 3-Mal-Geimpfte. Ein Viertel der Deutschen sind geboostert. Der Einzelhandel fordert die Abschaffung der 2G-Regel.
13. Dezember | Detektor

Ein Bekannter schreibt, dass er nicht in einem vormundschaftlichen Staat lebe wolle. Ein anderer teilt Videos, in denen Anthony Fauci mit Josef Mengele verglichen wird. Auf Twitter trendet Gürtelrose, weil eine Impfung diese angeblich auslösen soll. Ein Autor wirft Stefanie Sargnagel vor, nicht genügend zu differenzieren, wenn sie in einer Rede auf einer Gegendemo zur Querdenkerdemo in Wien ruft: »Scheißt den Nippies in die Klangschalen«.
Ich merke, dass ich viel zu ausgelaugt bin für eine Differenzierung in dieser Sache, viel zu erschöpft und wütend. Will nicht von DDR-Erfahrungen erfahren und mir erklären lassen möchte, wo es Überschneidungen zu einem von Olaf Scholz geführten Deutschland gibt. Will nicht erklären müssen, was einen Vergleich mit Mengele so widerlich macht, selbst wenn es ein Bekannter ist, den ich schätze. Will mich nicht in die Wirkungsweise von Gürtelrose einlesen müssen, um später einmal in einem Gespräch Informationen anbringen zu können. Will nicht aufwendig auseinanderhalten müssen, welcher Teil der Esobewegung wie wo ins Querdenkermilieu vernetzt ist, welcher ins rechte Spektrum, was davon eins ist.
Hab keine Kraft dafür, hab so viel Besseres zu tun, kein Interesse, finde das nicht notwendig mehr nach zwei Pandemiejahren, nicht notwendig in Wochen, in denen 300 tägliche Tote als Entspannung gelten, in denen Modellierer angesichts von Omikron davon sprechen, dass es keine Kurve mehr geben könnte, sondern eine Wand. Kein Interesse daran, die Fackelträger vor den Privathäusern von Politikerinnen verstehen zu wollen, kein Interesse an Dialogen mit Menschen, die sich per WhatsApp gefälschte Impfausweise besorgen, kein Verstehenwollen für die Tausend auf einer Brücke in Greiz, die 1500 in Reutlingen, keine Gedanken für Menschen, die Ministerpräsidenten erschießen wollen und sich dabei als ehrbare Bürger sehen.
Ich weiß, das ist einer der letzten, der extremsten Schritte auf einem längeren Weg. Der wo beginnt? Vielleicht mit einem gesetzten Smiley unter dem Bild von »Karl Lügenbach«? Wobei es nicht darum geht, keine Kritik zu üben, ganz im Gegenteil, es gibt so viel Kritik zu üben. Es geht um ein Mind-Set, eine grundsätzliche Verachtung, eine Verächtlichmachung, die stets das Schlimmste unterstellt.
Ich glaube, dass es nach fast zwei Jahren Pandemie einen Bullshit-Detektor gibt, der solche Arten von Meldungen, Erlebnisberichten, Aussagen schnell einordnen kann; es sind Schlüsselwörter, Bildauswahl, das Ausgelassene. Ein Detektor, der schnell und schmerzhaft anschlägt, weil die vermeintliche Meldung, das Videocast, dieses »unzensierte« Weblog mit dem seltsamen Layout stets in eine große Sache eingebettet sind und diese Sache am Ende immer mit Fackeln vor Häusern steht, »Friede Freiheit unsere Diktatur« brüllt und jemanden am Galgen baumeln sehen will.
Nein, ich möchte da nicht mehr differenzieren, Gegenargumente sammeln, Verständnis aufbringen. Ich möchte sagen: Es ist irre, dass du das Spritzen eines Impfstoffes, der dir sehr wahrscheinlich das Leben retten kann, damit vergleichst, an einer Grenze erschossen zu werden. Irre, dass du glaubst, ein Vergleich mit Mengele dir irgendeinen Erkenntnisgewinn bringt. Dein gelber Stern mit Spritze ist irre. Ich will dir nicht mehr erklären, warum das so ist, will nicht deine Worte dazu hören. Ich will nicht mehr differenzieren. Auch nicht am Anfang mehr, beim ersten Like, dem ersten Nicken. Dafür gibt es den Detektor. Er kennt den Anfang, kennt die Fackeln.
Ich weiß, dass es komplizierter ist. Dass der Ministerpräsident, der weiß, dass Coronaleugnerinnen ihn ermorden wollen, differenzieren will, die Innenministerin das ebenfalls möchte. Weiß, dass immer differenziert werden muss / wird. Die Soziologinnen und Sozialarbeiter müssen das, die Politologinnen, Journalisten, Polizistinnen, später die Ärztinnen und Pfleger. Sie müssen differenzieren, unterscheiden, um zu verstehen, um zu verhindern, um helfen.
Das ist mein Eintrag, ich habe viel zu viele Einträge dieser Art geschrieben, auch, um irgendwie zu fassen, was passiert, welcher Irrsinn. Ich suche keine Argumente mehr, versuche keine Differenzierung, wenn der Detektor anschlägt, wenn wieder einer sagt, was sonst nicht gesagt werden darf, wenn eine der Red Flags aufleuchtet, bei der Hybris, sich als Verfolgter einer Impf-Junta zu wähnen, das wehledige Suhlen in einer Opfermentalität, das bereitwillige Ausschalten allen Verstands und Anstands, der engagierte Verzicht, nur ein klein wenig an Ambivalenz auszuhalten, dann sage ich nicht: Erzähl mehr. Ich will es verstehen. Ich sage: Es ist irre.
Es ist irre und abstoßend, wenn du dich mit einem Juden einer Jüdin in Deutschland 1938 vergleichst, weil du kein Schuhgeschäft betreten kannst. Eins von vielen Weils: Dann bestellst du Schuhe über Zalando. Oder machst es wie bei einem Schuhladen in Weimar: Klopfst an die Scheibe, die Schuhe werden dir rausgebracht. Das ist deine Diktatur. Dir werden Schuhe auf die Straße gebracht.
Ansonsten: Wegen der coronabedingten Störungen der Gesundheitssysteme sind in Europa bisher nach Schätzungen etwa eine Million Fälle von Krebserkrankungen unentdeckt geblieben. In Südkorea sollen Überwachungskameras mit Gesichtserkennung zu Nachverfolgung von Kontakten Infizierter genutzt werden. Die Impfungen mit Corona-Kinderimpfstoff beginnen, 2,2 Millionen Dosen sind vorerst dafür vorgesehen. In Neuseeland wird ein Mann wird beschuldigt, eine Art Stellvertreter-Impfprogramm betrieben zu haben, bei dem er dafür bezahlt wurde, dass er bis zu 10 COVID-19-Impfungen pro Tag für andere Personen erhalten zu haben.
12. Dezember | kolloidales Gold

Vor den Geschäften, die nicht als elementar für das Leben eingestuft sind, provisorische Absperrungen, davor jemand, der die Eintretenden auf einen Impfnachweis kontrolliert, die Kontrolleure die Einkaufswagenzuteiler des Pandemiewinters 2021. Auf den Gehwegen, in den Straßengräben noch immer die weggeworfenen Masken. Dazugekommen seit einiger Zeit die gebrauchten Selbsttests, liegen die Beutel, Schachteln und Anweisungen in Piktogrammen.
10. Dezember | Omikron III

Wie spricht man über etwas, über das allgemein gesprochen wird, obwohl kaum etwas gesichert ist? Wie geht man mit Nichtwissen um, obwohl ein sehr großes Bedürfnis nach Wissen besteht? Weil darüber gesprochen wird, auch dieser weitere Eintrag über Omikron, wider besseres Wissen.
Omikron ist ein beispielhaftes Pandemie-Ereignis. Die Aussagen stehen sich diametral gegenüber und ich muss mich mit den Widersprüchen zurechtfinden. Auf der einen Seite die Berichte über mildere Verläufe, die Äußerung Anthony Faucis, dass Omikron nicht schlimmer als Delta ist. Andererseits die Berichte, dass der Impfstoff auch bei dreifach Geimpften gegen eine Infektion und leichte Erkrankung nicht wirkt.
Ich weiß, dass es noch nichts zu wissen gibt, keine fertigen Studien, Analysen, Ergebnisse. Dennoch drängt es mich, eine Einordung zu bekommen, eine Tendenz zu erfahren. Muss ich mich sorgen, kann ich entspannen, darauf will ich es runtergebrochen bekommen, obwohl ich weiß: Vorerst ist die Sache viel zu komplex für einfache Antworten.
Was ich lese, was einigermaßen gewiss scheint: Die Mutante Omikron ist (deutlich) ansteckender als die bisherigen Varianten. Ab da wird es schon komplizierter. Weniger Hospitalisierungen, mehr Kinder im Krankenhaus, nicht so starke Verläufe, 2 Impfungen schützen nicht vor Infektionen, Booster schon, Boosterdurchbrüche bei schon 3fach-Geimpften, die Immunantwort um das 37fache gesenkt, Neutralisation etc.
Es fällt schwer, daraus etwas abzuleiten. Und es fällt schwer, zu warten und nicht aus den Ableitungen anderer etwas abzuleiten. Bedeuten die kranken Kinder in Südafrika, dass Omikron gefährlicher für Kinder ist? Oder es eher die Ungeimpften trifft? Was ist eine Antikörperantwort, welche Rolle spielen die T-Zellen bei einer Covid-Erkrankung? Ich habe keine Chance, etwas zu verstehen. Es ist die Zeit der Wissenschaftlerinnen und ich bin in Echtzeit bei ihnen.
Christian Drosten sagt im Podcast, dass Omikron die erste endemische Mutante des Sars-CoV-2-Virus sei. Und er sagt, dass diese (für Deutschland) zu früh käme, weil endemisch für Gesellschaften gemacht sind mit hohem Impfschutz oder/unter vielen Genesenen. Und Deutschland, so Drosten, habe, anders als Südafrika oder UK, zu wenige Genesene, zu groß die Impflücke, auch bei den Alten. Zusammen mit der hohen Ansteckungsrate sieht er darin die Gefahr.
Ich erinnere mich an Delta. Auch dort die Aussage, dass die Mutante ansteckender, aber nicht tödlicher sei. Zuerst die Erleichterung. Dann das Verstehen, dass es bei Corona immer darum gegangen ist, dass nicht Viele gleichzeitig krank werden. Die hohe Ansteckungsrate gefährlicher als eine hohe Todesrate.
Trotz wenig Wissens wird über etwas gesprochen. Es lässt sich nicht vermeiden, es ist auch notwendig. Und – auch das eine Lehre aus der Pandemie – das erste Sprechen prägt das Bild. Jetzt muss etwas gesagt werden, weil es alle interessiert, alle betrifft.
Ich stehe im Supermarkt und anders als in den letzten Monaten wird über das Supermarktradio für das Impfen geworben. Gestern war der Tag mit den meisten Impfungen in Deutschland, mehr als eine Million. Wie reagiere ein Ungeboosteter, jetzt, im endlich angekommenen Bewusstsein, dass Boostern zum Impfen gehört, auf die Nachricht: Selbst Boostern könnte mich nicht vor eine Omikron-Ansteckung schützen?
Was, wenn sich tatsächlich herausstellt, dass ich als 3fach-Geimpfter genauso ansteckend bin wie einer dieser auf einer Demo in Pirna krakeelenden Impfverweigerinnen? Was macht das mit meiner hohen Moral, macht es mit meinen Argumenten, wenn das verbliebene Argument ist: Aber ich werde höchstwahrscheinlich nicht krank, ich werde höchstwahrscheinlich nicht auf einer Intensivstation liegen, ich werde keinen Platz in Anspruch nehmen müssen?
Das Argument ist stark, es ist das stärkste aller Argumente. Aber genügt das? Wie werde ich darüber sprechen, wenn mein Facebook, mein WhatsApp, meine Gespräche geflutet werden mit den weiteren Widersprüchen – Du bist genaus Treiber der Pandemie, Dein heiliges Impfen schützt ja nicht mal davor, mich anzustecken?
Wie argumentiere ich, solange mein Argument noch ein Preprint ist? Und ich muss argumentieren, das ist ja das Irre. Gegen Omikron, der endemischen Mutante, hilft nur Impfen, weil bei einer so ansteckenden Variante nur das Impfen die Krankenhäuser und Intensivstationen freihält. Ja, wie spreche ich über Omikron, wenn ich doch so wenig weiß?
Ansonsten: Laut einer Umfrage sind 77 Prozent der Befragten für starke Einschränkungen für Ungeimpfte. Der Bundestag beschließt eine Impfpflicht für Klinik- und Pflegepersonal. Das Bundesamt für Statistik meldet, dass in der bisherigen Pandemiezeit eine Übersterblichkeit gemessen wurde. Wegen »leichten Infiltrationen in der Lunge« nach einer Infektion kann der Fußballspieler Josuha Kimmich vorerst nur sehr eingeschränkt am Training teilnehmen. Trotz der weltweit höchsten Infektionsrate lockert die Slowakei die Beschränkungen und begründet das mit Druck aus der Bevölkerung.
9. Dezember | verwischt
Heute alles müde und matt, was weniger am Booster liegt. Die Coronawelt läuft dennoch weiter, versuppt zu einem verwischten Traumgebilde, wie ein computergeneriertes Bild zu den Schlagwörtern Kimmich, Weidel, Omikron in der Wombo-App.
8. Dezember | boostern

Am Tag, an dem Olaf Scholz als Bundeskanzler vereidigt wird, werde ich zum dritten Mal geimpft. Vor einem halben Jahr hätte ich nicht geglaubt, dass auch nur eins von beiden geschehen könnte.
Der eigentliche Termin ist für nächste Woche ausgemacht. Durch eine Verkettung mehrerer (legaler) Umstände ergibt sich die Möglichkeit, heute schon die sogenannte Boosterimpfung zu erhalten. Dafür muss ich keine Stunde nach Gera fahren, sondern nur zum Goetheplatz spazieren, wo sich im Kulturzentrum Mon Ami die Weimarer Impfstelle befindet. Fast täglich laufe ich dort vorbei, heute auch hinein.
Anders als das Geraer Impfzentrum, das sowohl von den Ausmaßen als auch den zackigen Abläufen an eine Fabrik im optimierten Schichtsystem erinnert, wirkt die Impfstelle gemütlicher. Die Stelle befindet sich über einem Kino, an den Wänden hier hängen Filmposter, Mein Leben ohne mich mit Sarah Polley gleich zwei Mal.
Ich freue mich über den Termin, überhaupt die Möglichkeit einer dritten Impfung. Ansonsten bin ich wenig aufgeregt. Ich suche keine Momente, die ich später pathetisch überhöhen kann, sondern einen Platz zum Sitzen. Wobei ich diesen nicht benötige. Nach den Formalitäten am Empfang sofort das Vorgespräch mit einer Ärztin. Anschließend bittet eine andere Ärztin sofort in Impfkabine 2. Sie nimmt kurz Bezug auf meine Angaben zu den Nebenwirkungen der zweiten Impfung, dann impft sie, gratuliert nachträglich zum Geburtstag, freundliche und herzliche Worte. Gemeinsam verlassen wir die Kabine, weil sie schon nach dem nächsten Impfwilligen sucht. Auch die Ärztin aus Kabine 1 tigert durch den Raum, fragt, wer der Nächste sei, beide wollen impfen und das schnell und effizient.
Nun bin ich geimpft, ein drittes Mal. Auf den Tag genau vor einem Jahr wurde in England weltweit die erste Corona-Impfung verabreicht, Margaret Keenan saß im Pinguinpullover in Coventry. Es scheinen zwei Zeitalter seither vergangen. Während ich zehn Minuten zur Beobachtung warte, scrolle ich mich durch die aktuellen Meldungen zu Omikron. Sie klingen desaströs und ich ahne, dass ich bald schon wieder hier sitzen werde. Dann schließe ich die Weltnachrichten, weil ich mir mein Hochgefühl über die steigende Zahl Antikörper in mir nicht verderben lassen möchte, zumindest heute nicht, und fotografiere für diesen Eintrag den zuversichtlich funkelnden Weihnachtsbaum vor den beiden Impfkabinen.
Ansonsten: Der amerikanische Coronaexperte Anthony Fauci erklärt, dass es nahezu sicher sei, dass Omikron nicht schlimmer als Delta ist. Laut einer Untersuchung der Virologin Sandra Ciesek reduziert sich Antikörperantwort gegen Omikron drastisch im Vergleich zur Delta-Variante, was bedeutet, dass der Schutz vor Infektionen auch bei Geimpften gegen null sinkt. Impfgegnerinnen demonstrieren vor dem Wohnhaus des neuen Gesundheitsminister Lauterbach. In Berlin dürfen Obdachlose ohne 3G-Nachweis nicht mehr vor der Kälte auf Bahnsteigen Zuflucht suchen. 2020 infizierten sich etwa vier Prozent der Hauskatzen in Europa mit Corona.
7. Dezember | 83 Millionen Intensivbetten

Jemand schreibt: »Gäbe es in Deutschland 83 Millionen Intensivbetten, gäbe es keine Überlastung des Gesundheitssystems.« Es ist polemisch gemeint, ein Gedankenspiel. Aber dennoch: Wie viele Intensivbetten inklusive Personal sollten in einem reichen Land mit 83 Millionen Einwohnerinnen zur Verfügung stehen?
Offensichtlich ist: Gerade reicht die Bettenzahl nicht aus; Operationen werden verschoben, Patientinnen verlegt, Sachsen gestattet die Überschreitung der Höchstarbeitszeit des Krankenhauspersonals. Ein Grund für die Überlastung: Im Vergleich zum letzten Jahr stehen weniger Intensivbetten zur Verfügung. Die Apparate sind da, das Personal hat gekündigt. Es ist der Politik, der Wirtschaft, dem Gesundheitssystem, der Gesellschaft nicht gelungen, während einer Pandemie, in der die Bedeutung von Gesundheitspersonal sehr deutlich wurde, die Zahl dieses Personals zu vergrößern oder auch nur zu halten.
Ein weiterer Grund: Dem Gesundheitssystem geht es grundsätzlich nicht gut. Die Mängel sind bekannt, die Ungerechtigkeiten. So und so viele Texte wurden darüber geschrieben. Aber viele Reportagen über Corona-Intensivstationen kann ich sehen, will ich sehen? Ich sehe, bin informiert und wenn ich es nicht von Bekannten höre oder selbst erfahren muss, dann sind die Zustände weit weg, auch aus Selbstschutz.
Ein dritter Grund: Die vierte Welle. Ist die Zahl der Betten ausreichend und ist nur die »Welle« zu groß? Was meint groß? Was wäre denn eine adäquate Zahl von belegten Betten? Wie viel Corona-Intensivpatientinnen wären für die Gesellschaft auszuhalten, wären für uns zu ertragen? Würden zweitausend zusätzliche Intensivbetten die vierte Welle annehmbar machen? Wären sie eine Rechtfertigung für die Sieben-Tages-Inzidenz? Würde ich denken, wir haben die Sache im Griff, weil da Platz ist für zweitausend künstlich Beatmete mehr?
Ansonsten: Vorerst keine Prämie für Intensivpflegerinnen, weil keine Einigung über die Formalitäten besteht. Um die Impfkampagne zu beschleunigen, sollen Tierärztinnen, Zahnärztinnen und Apothekerinnen Coronaimpfungen verabreichen dürfen. Eine Polizistin aus dem Saarland wird vom Dienst suspendiert, nachdem gegen sie Ermittlungen wegen des mutmaßlichen Verkaufs gefälschter Impfpässe eingeleitet wurde. In Königs Wusterhausten ermordet ein Mann seine Frau und seine drei Kinder, weil er eine Verhaftung wegen eines gefälschten Impfpasses befürchtete. Der Deutsche Presserat prüft eine Beschwerde gegen die Bild, die in einem Artikel mehrere Wissenschaftler als »Lockdownmacher« bezeichnet hatte. In Moskau erschießt ein Maskenverweigerer zwei Menschen. Auf Telegram teilen Coronamaßnahmengegner eine Liste mit Privatadressen und fordern, dass diese Menschen in Zukunft »kein unbeschwertes Leben« mehr führen dürften.
Bei einer Umfrage stimmen ein Drittel der befragten Thüringerinnen den Aussagen zu: »Es gibt geheime Organisationen, die während der Corona-Krise großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben« und »Die Regierung hat die Bevölkerung in der Corona-Krise gezielt in Angst und Schrecken versetzt, um massive Grundrechtseinschränkungen durchsetzen zu können.«
6. Dezember | Omicron II

Vor zehn Tagen ein erster Eintrag über die Mutante Omicron, eine Wortkombination wie aus einem ScFi-Pulp-Comic, vor zwei Jahren unvorstellbar, dass darüber die gesamte Welt in Aufregung geraten könnte. Seither ziehen sich die Augenbrauen der Expertinnen sorgenvoll nach oben. Einiges deutet auf eine höhere Ansteckung und Wiederansteckung hin, darauf, dass andere Gruppen gefährdeter sein könnten, dass der Impfstoff dennoch zu wirken scheint. Alles Vermutungen, kaum etwas gewiss.
Mir fiel auf, dass schon wenige Stunden nach dem Bekanntwerden der Mutante in jedem Gespräch wie von selbst die Rede auf Omicron kam. Wir wussten, was eine Mutante in der Pandemie bedeuten kann und deshalb konnten wir darüber sprechen, noch ohne etwas zu wissen.
Auch die Berichterstattung änderte sich, so, als ob das Auftreten einer Mutante ein eigenes Genre innerhalb der Pandemie-Berichterstattung darstellt. In erschöpfender Ausführlichkeit wurde das Auftreten von Omicron-Fällen in allen möglichen Ländern aufgezählt (1. Omicronfall in Thailand, 2 Omicronfälle in Finnland, Omicron auch auf den Kanarischen-Inseln nachgewiesen), eine Ausführlichkeit, die ein Gefühl zunehmender Bedrohung erzeugt, wie eine sich zuziehende Schlinge, wie das unablässige Schlagen auf Trommeln in Filmen, die so das Heraufziehen einer Schlacht erzählen sollen. Vielleicht ist diese Form der Informationsvermittlung einfacher zu schreiben (und zu lesen) als den Kollaps des Krankenhaussystems in Newstickern und Smalltalks zu thematisieren.
Dazu die Hinweise, dass Omicron zwar in Südafrika entdeckt wurde, das Virus aber nicht zwangsläufig in Südafrika mutiert sein muss. Sondern es vielmehr bedeutet, dass Südafrika – auch durch die lange und schmerzvolle Erfahrung mit Virenkatastrophen – über ein schnelles und genaues Erkennungssystem verfügt. Das Einreiseverbot aus afrikanischen Ländern wurde entsprechend betrachtet; einerseits Lob für die notwendige und schnelle Reaktion, andererseits der Vorwurf vorurteilsbelasteter Inkonsequenz, weil Omicron mittlerweile in vielen (westlichen) Ländern nachgewiesen wurde, über die kein Einreiseverbot verhängt wurde. Zeitungen schreiben, »das Virus aus Afrika«, andere illustrieren Omicron mit Karikaturen, die ein Ruderboot auf dem Mittelmeer zeigen, in dem schwarze Sars-CoV-2-Viren freudig auf Europa zusteuern.
Über den Ursprung Omicrons mehrere Theorien. Ebenfalls der Hinweis, dass das Virus auch mutiert sein könnte, weil die Impfquote in afrikanischen Ländern so niedrig ist, weil die (westlichen) Länder wenig Impfstoff dorthin liefern, weil es keine Freigabe der Impfstoff-Patente gibt, weil die Mutation so möglicherweise logische Folge dieses Verhaltens sein könnte. Darauf wiederum der Hinweis, dass in Südafrika ausreichend Impfstoff zur Verfügung stehe, im Land allerdings auch die Annahme, dass es neben Corona noch größere Virenbedrohung gebe etc.
Zum Teil sich widersprechende Informationen, ich kann spekulieren, empört sein, verängstigt, leicht zuversichtlich, komplett pessimistisch, der Eintrag könnte deutlich mehr Worte umfassen, so viele Informationsmöglichkeiten im Umlauf.
Auch wird spekuliert, dass mit Omicron schon die fünfte Welle festgeschrieben ist. In Südafrika steigen auffällig die Infektionszahlen, gerade bei Kindern die Krankenhauseinweisungen. Während hierzulande die vierte Welle aufgrund von selbstgemachten Problemen, Verfehlungen und Versäumnissen diese Ausmaße annehmen konnte, ist Omicron eine Gefahr von außen. Wie verändert es das Reden über die Pandemie, die Schuldzuweisungen, wie verändert es das Handeln? Denn Wenig-Wissen über die konkrete Bedrohung und zugleich Viel-Wissen über die wahrscheinlich entstehende Dynamik ist wieder einmal parallel vorhanden.
Die notwendige Erkenntnis nach zwei Jahren Pandemie: Trotz vieler Wissenslücken muss jetzt schon der Plan für die wahrscheinlich kommende Bedrohung gemacht werden, und das, obwohl die aktuelle Bedrohung bockig auf einem Hochplateau verharrt.
Ansonsten: Der sächsische Landtag stellt die epidemische Lage im Freistaat fest und schafft somit die rechtliche Grundlage für eigene Schutzmaßnahmen. Der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz verurteilt den Fackelaufzug von Gegnerinnen der Coronamaßnahmen vor dem Privathaus der sächsischen Gesundheitsministerin. Der neue österreichische Bundeskanzler kündigt an, die Sorgen und Ängste der Impfgegnerinnen ernstnehmen zu wollen. Mehr als 150 Unternehmen werben gemeinsam für die Coronaimpfung. Die EU erklärt, dass sie bislang mehr als 350 Millionen Dosen Impfstoff an andere Länder gespendet habe. Biontech plant, die erzielten Gewinne mit dem Coronaimpfstoff in die Entwicklung von Krebsmedikamenten zu invenstieren. Mehr als 14 Millionen Boosterimpfungen bisher. Neue Worte in der Pandemie.
5. Dezember | falsch-positiv
Ein Anruf aus dem Kindergarten. Ein positiver Schnelltest. Das habe ich vor einem Monat geschrieben. Mittlerweile hätte ich weitere Einträge mit diesem Satz füllen können. Denn seither gab es mehrere positive Schnelltests im Kindergarten, die sich später als negativ erwiesen. Falsch-Positiv als Routine des Pandemiealltags. Ich weiß ja, wie glücklich und dankbar ich bin, dass es keine Infektion gab. Weiß, dass sich so viele mit so viel größeren Problemen und Fragen herumschlagen müssen als mit Falsch-Positiv, das bestenfalls nur Umstände macht. Dennoch hat Falsch-Positiv Folgen; die präventive Quarantäne, das Meiden von Kontakten, Absagen, das Rausnehmen aus dem geplanten Leben, auch das nicht immer so angenehme präventive Informieren von Kontaktpersonen über eine mögliche Infektion, das Warten auf das Ergebnis des PCR-Tests, das Starren auf die Warn-App, natürlich die Sorge, das Ausmalen von Situationen. Falsch-Positiv legt mehrere Tage auf noch mehr Eis, als sie ohnehin schon liegen. Wenn das mehrmals fälschlicherweise geschieht, dann kostet das unnötig Kraft, wo ohnehin schon weniger Kraft vorhanden ist.
Ansonsten: Infektionsrisiko mit FFP2-Masken. Weihnachtsmarkt in Luxemburg. In Salzburg werden vor Landeskliniken Veranstaltungen angemeldet, um damit eine Bannmeile vor dem Krankenhaus zu schaffen gegen eine mögliche Belagerung durch Querdenker.
4. Dezember | Impfpflicht III
Ich lese die Einträge der beiden letzten Tage. Niemals hätte ich angenommen, dass, weil es tatsächlich geschieht, ich darüber schreiben würde, wie eine relevante Zahl von Menschen sich Impfungen stolz verweigern, wie Gruppen sich aktiv dem Lebensschutz entziehen, Leute versuchen, andere zu überreden, ebenfalls auf die Impfung zu verzichten. Es ist bizarr und absurd, jedes Wort darüber ergibt keinen Sinn. Und dennoch passiert es. Ein Todeskult, eine Todesideologie, deren Mitglieder aus Trotz den eigenen Tod und den von anderen in Kauf nehmen.
Ich kenne das Motiv aus Büchern, Filmen, aus der Geschichte. Aber niemals hätte ich angenommen, dass in meiner Gegenwart Impfen Teil eines Kulturkampfs werden könnte. Denn anders als Diskussionen über den Genderstern ist es beim Impfen eine Frage von Leben von Tod.
Und auch wenn ich öffentlich nicht darüber schreiben werde, macht mir diese Verweigerung, das Weltbild, das damit im Schlepptau hängt, im Freundes-, Bekannten-, Familienkreis zu schaffen, ist neben der Überraschung, der Fassungslosigkeit vor allem Sorge, Angst, Rat- und Hilflosigkeit.
Ansonsten: Trotz einer der weltweit höchsten Impfquoten verdoppelt sich in Portugal die Inzidenz innerhalb von drei Wochen auf knapp 200, die Lage auf den Intensivstation ist unter Kontrolle.
3. Dezember | Impfpflicht II

War mein gestriger Eintrag zu soft, zu sehr um Verständnis bemüht? Die Zahlen der Relation von geimpft/ungeimpft bei Infektionen, Übertragungen, Krankenhauseinweisungen, Intensivstationen sind ja kein Geheimnis, täglich erfahre ich, welches Leid das verursacht. Ich weiß, dass ein Teil jener, die ungeimpft sind, über das verfügen, was man ein geschlossenes Weltbild nennt. Kenne die Videos, kenne die Bilder, wie sich Ungeimpfte vor Krankenhäusern mit Kerzen vor Krankenhäusern postieren, wo um das Leben ungeimpfter Covid-Patientinnen gekämpft wird, und gegen das Impfen protestieren, lese die Texte über Ungeimpfte, die andere vom Impfen abhalten, die Toten, die das fordert, lauter Beispiele, die nicht zu fassen sind in ihrer zynischen Scheußlichkeit.
Im gestrigen letzten Absatz habe ich geschrieben, dass ich es nicht verstehen kann, weshalb man sich nicht impfen lässt. Dabei ist das natürlich auch zu verstehen. Psychologinnen, Soziologinnen, Politikwissenschaftlerinnen haben viele Erklärungen in viele kluge Texte und Bücher geschrieben; über die Funktionsweise von Verschwörungsmythen, über radikale Netzwerke, über das Denken, das auch in der Pandemie zum Tragen kommt.
Gerade heute erhalte ich ein Video, zugeschickt aus dem nahen Bekanntenkreis, es zeigt einen Virologen, der vor einer Katastrophe epischen Ausmaßes warnt, wenn die Impfungen nicht sofort gestoppt werden. Die Sorge desjenigen, der das Video schickt, ist ernst.
Ich frage mich, wie es möglich ist, solch ein Denken noch zu beeinflussen. Ob es möglich ist. Frage mich das bei denen im Freundes-, Bekannten-, Familienkreis, bin ernsthaft besorgt. Frage mich, was geschieht, wenn die Impfpflicht kommt. Wie dann die Reaktionen bei denen mit geschlossenem Weltbild sind. Der Mörder von Idar-Oberstein gab zu Protokoll, dass er an Merkel oder Steinmeier nicht rankäme. Deshalb das erreichbare Ziel. Ein Text in der ZEIT fragt (in einer Zuschreibung, die ich als befremdlich empfinde), wie »der Osten« auf eine Impfpflicht reagieren würde. Die Antwort eines Extremismusforschers ist: Für die überwiegende Mehrheit würde die Impfpflicht Orientierung, Entlastung, letztlich Gerechtigkeit bedeuten. Für die radikalisierte Gruppe würde sie den Staat, die demokratische Gesellschaft noch weiter zum Hassobjekt machen.
Und vielleicht ging es darum im gestrigen Eintrag: um die weiterhin notwendige Befähigung, die Gruppen zu erkennen, dann zu differenzieren, zu urteilen, zu handeln.
Ansonsten: Starker Anstieg der Coronafälle in Südafrika. Wellenbrecher wird zum Wort des Jahres gekürt. Der evangelikale Fernsehprediger Marcus Lamb, der in seinen Sendungen gegen das Impfen Stellung bezog, stirbt an Covid 19. Um einen Impfnachweis zu bekommen, sich aber nicht impfen lassen zu müssen, hält in Italien ein Mann bei der Impfung eine hautfarbene Arm-Attrappe hin.
2. Dezember | Impfpflicht

Vieles deutet auf eine allgemeine Impfpflicht hin. In den letzten Tagen und Wochen auch mehrere Gespräche darüber geführt, die unterschiedlich waren in Tonalität, auch in ihren Schlüssen.
Dabei dachte ich zurück an meine Impfhistorie. Ich habe Impfen nie hinterfragt. Mich nicht eingelesen in Herstellung und Wirkungsweise, nie informiert über unterschiedliche Anbieter der Impfstoffe. Ich ließ mich impfen, weil die Annahme war: Der Impfstoff schützt mich. Der Stoff ist millionenfach verimpft, Expertinnen haben viel Zeit damit verbracht, ihn sicher und wirksam zu machen. Auch beim Coronaimpfstoff war es so: Nachdem klar war, dass es nicht AstraZeneca wird, war ich froh, nun geschützt zu sein. Angst hatte ich nicht, im Gegenteil, Angst war mir genommen, eine große Erleichterung.
Die Angst beim Impfen kam erst als Vater. Einerseits das sichere Wissen, dass Impfen mein Kind schützt. Und dennoch im Kopf die Berichte von Folgen. Und so gab es bei entsprechenden Us immer auch ein leichtes Unbehagen, das ich rational vertreiben wollte, was dennoch blieb, ein, zwei Tage lang.
Ich habe es hier schon mehrmals geschrieben, was für eine Leistung es ist, innerhalb eines Jahres mehrere Wirkstoffe gegen ein neues Virus zu entdecken und in milliardenfachen Mengen zu produzieren. Und was für ein Luxus, in einem Land zu leben, das sich diesen Lebensschutz leisten kann und für alle die Infrastruktur zum Impfen bereitstellt. Dass ich rein logisch nicht begreifen kann, weshalb man beim Impfen zögert, gerade beim Blick auf die Zahlen; auf die acht Milliarden Impfungen, auf die 260 Millionen Infektionen, die 5.2 Millionen Toten. Rational ergibt es für mich keinen Sinn, auf das Impfen zu verzichten, die Wahrscheinlichkeiten so klar und eindeutig verteilt.
Eine fast wahre Geschichte, weil ich gehört habe, wie Kinder Ungeimpfter als Schimpfwort verwenden. Ich stehe am Spielplatz, die Kinder teilen sich in zwei Gruppen. Eine große, das sind die Geimpften, eine kleine, die Ungeimpften. Das Spiel geht so: Die Ungeimpften müssen vor den Geimpften weglaufen, die Geimpften versuchen zu fangen. Gelingt das, ruft das Kind »geimpft« und der ehemals Ungeimpfte wird der großen Gruppe zugeschlagen.
Ich habe mit Ungeimpften gesprochen. Auch hier verschiedene Tonalitäten. Es gab Gespräche, in denen das Ungeimpftsein als stolze Ideologie präsentiert wurde, in denen der Widerstand gegen das Impfen den Widerstand gegen vieles andere mehr beinhaltete. Aber auch Gespräche, die überraschend leise waren, in denen die typischen Argumente (mögliche Langzeitfolgen, Veränderung der DNA, ich warte lieber auf den Totimpfstoff) verdruckst, fast beschämt vorgetragen wurden.
Zum Glück gab es auch diese Gespräche. Denn ich merke, dass, wenn ich erfahre, dass mein Gegenüber ungeimpft ist, sofort die Dominosteine umfallen, eins kommt zum anderen. Aus dem Ungeimpftsein wird ein Querdenker wird jemand, der auch Reichskriegsflaggen schwenken könnte etc. Die Schublade ist sofort auf und sie ist oft auch passend. Aber oft eben nicht. Oft ist es auch anders, komplizierter, das möchte ich annehmen, das möchte ich hoffen.
Auf Twitter bietet ein Arzt Hilfe beim Finden von Erst-Impfterminen an. Er sagt, jede könne sich an ihn wenden: jene, denen es peinlich ist, sich erst jetzt erstmalig zu impfen, jene, die sich schämen, die es versäumt haben, die nicht in der Lage sind, Termine zu machen, die ihre Meinung geändert haben. Ein Grund brauche er nicht, sagt der Arzt, ihm reiche die Bereitschaft zum Impfen. Ich finde das gut, auch wichtig, so zu denken, so zu helfen, nicht zu beschämen, nicht zu hassen, nicht immer sofort die Dominosteine umzustoßen.
Und dennoch weiß ich ganz sicher, dass es nicht ausreichen wird, dass es mehr Impfungen braucht, auch bei denen, die weder verschämt noch hilflos sind. Es braucht diese Impfungen als eines von mehreren Mitteln, um aus der Pandemie herauszukommen. Ohne wird es nicht gehen, es wird nicht gehen, ohne dass die meisten geimpft sind.
Und wenn sich in den nächsten Wochen nicht zeigt, dass die Mehrzahl bisher Ungeimpften ihre Meinung ändert, dann braucht es mehr, denke ich, diesen Eingriff, diese Abwägung des Einzelnen gegen alle. Ich versuche es rational zu formulieren. Die Gesellschaft rechnet die Schäden gegeneinander auf und kommt zu dem Entschluss, dass die Impfpflicht der kleinere Schaden gegenüber einer fortwährenden Pandemie ist mit all ihren Folgen.
Es ist ein sachliches Argument, denn am Ende verstehe ich es doch nicht, wie man freiwillig auf Schutz verzichten kann, ich verstehe es nicht und möchte dennoch nicht, dass Ungeimpfter ein Wort in einem Kinderspiel ist.
Ansonsten: Erneut sinkt die Sieben-Tage-Inzidenz leicht. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz warnt, dass es bei einer Impfpflicht eine entsprechende dauerhafte Infrastruktur mit Mitarbeiterinnen brauche. Momentan gibt es mehr Covidtote in Bundesländern mit niedriger Impfquote. Eine knappe Millionen Coronaimpfungen an einem Tag. Bund und Länder beschließen verschiedene Maßnahmen, darunter ein Böllerverbot zu Silvester. Die britische Arbeitsministerin Coffey rät vom vorweihnachtlichen Küssen unter dem Mistelzweig ab.
1. Dezember | Cancel Culture

Flashback in den Mai sitze ich und aktualisiere alle fünf Sekunden http://www.impfen-thueringen.de, weil offenbar gerade einige Impftermine gecancelt werden – die einzige Cancel Culture, die ich ernstnehmen kann. Die letzten Tage schon mehrere Optionen im Kopf durchgespielt, wie ich an einen Impftermin gelangen könnte; Hausarzt, private Kontakte, terminloses Impfen.
Dabei gibt es genügend freie Termine. Ich könnte nach Suhl, Sonneberg oder auch wieder nach Gera fahren. Doch diesmal soll es nicht so umständlich sein, will ich nicht mehrere Stunden mit der Reise zur Spritze verbringen, auch nicht stundenlang anstehen. An der Weimarer Impfstelle laufe ich täglich vorbei. Ab nächster Woche sind die fünf vorgeschriebenen Monate seit der zweiten Impfung vergangen. Damit erlange ich das Recht, mich boostern zu lassen, meine Antikörper aufzufrischen, den Wirkungsgrad wieder über neunzig Prozent zu hieven. Diesmal soll es in Weimar geschehen.
Ich habe keine schlaflosen Nächte deshalb. Wenn es dieses Jahr nichts wird, dann im nächsten. Doch je mehr ich mich damit beschäftige, desto größer das Bedürfnis, rasch einen Termin festzumachen. Alle fünf Sekunden das Aktualisieren, immer fordernder der Klick, und dazwischen, während des Aktualisierens, tippe ich diesen Eintrag, obwohl ich eigentlich über die Impfpflicht schreiben wollte. Und nun beim letzten Satz, erhalte ich einen Termin, in weniger als zwei Wochen wird er sein, ich werde geboostert sein.
Ansonsten: Der Städtetag fordert einen »Impfknall«. Die Abstimmung im Bundestag über die Impfpflicht soll ohne Fraktionszwang erfolgen. In Nigeria wird nachträglich die Omikron-Mutante schon für den Oktober nachgewiesen. NRW führt die Maskenpflicht im Unterricht wieder ein. Wegen der starken Belastung von Intensivstationen sind mittlerweile mehr als 80 Covid-Patentinnen nach dem Kleeblattsystem in andere Regionen Deutschlands verlegt worden. Die Inzidenz sinkt, aber was heißt das wirklich? Mit 446 wird die höchste Zahl Coronatoter seit Februar gemeldet.
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