13. Juni | es wären Affenpocken gewesen

Hätte ich einen Eintrag für den Coronamai 2022 geschrieben, dann hätte er Affenpocken geheißen. Denn darum ging es, ein neuer, vielleicht alter Virus, die Aufmerksamkeitsmechanismen Corona ließen sich darauf lustvoll anwenden, ein einprägsamer Name, und dann doch recht schnell die Information, dass eine Affenpocken-Pandemie eher unwahrscheinlich schien. Dazu der Vermerk, dass die Zahlen weiter sinken, immer wieder der niedrigste Stand seit.
Vielleicht deshalb kein Schreiben. Und ein Schreiben Mitte Juni, weil die Zahlen wieder steigen, der R-Wert bei 1.3, eine Untervariante Omikrons aus Südafrika oder Portugal ersetzt die bisherige Untervariante, ansteckender, offenbar auch krankheitserregender. Aber das läuft neben Tankrabatt und Neun-Euro-Ticket und Sylt und Inflation und immer-noch-Ukraine eher unauffällig her. Man macht sich keine große Sorgen – und in diesem man ist auch ich eingeschlossen – und die Feste werden größer und die Festivals stehen offen und die Masken sind unten und ich verhalten vollkommen irrational; gehe auf Lesungen, Abschiedsfeiern, Konzerte, Kinos (so, wie damals in den 10er Jahren), umarme, stehe dicht, atme aus und noch mehr ein und beim Betreten des Supermarkts setze ich die Maske dennoch auf, eine letzte Reminiszenz an die vergangenen beiden Jahre, eine letzte Barriere, pflichtschuldig, warum auch immer.
Ich fahre mehr Zug, dort die Maske, die drei Stunden nach Berlin oder Frankfurt, nur für den Dean&David-Wrap heruntergezogen und so richtig Sinn ergibt das nicht und eine erneute Ansteckung wäre Unannehmlichkeit – fünf Tage keine Termine einhalten können dürfen oder sind es nur noch drei Tage Selbstisolation, ich kenne den Stand nicht – aber nichts, weshalb ich mich sorge und ich müsste auch mal schauen, wie lange Tests eigentlich haltbar sind.

Aber doch, eine Sache gibt es. Am Bahnhof von Friedrichsdorf steht ein Testzentrum. Wenn ich dort bin, habe ich Zeit und in dieser Zeit gehe ich ins Bahnhofsgebäude und lasse mich testen, das Ergebnis wird mir fünfzehn Minuten später aufs Smartphone geschickt. Ich tue es weniger, weil ich meinen Gesundheitsstand wissen möchte, es ist Langeweile, vor allem, weil ich den beiden Test-Arbeiterinnen zusah, sie standen, ihre Körper gehüllt in Schutzkleidung, draußen in der Sonne, sie warteten und warteten und warteten und niemand kam und ich ging zu ihnen, weil ich dachte, noch sinnloser als sich testen zu lassen wäre ein Testzentrum, in dem sich niemand testen lässt und sie waren so freundlich und hilfsbereit und schoben das Stäbchen genauso lange und genauso tief in meine Nase, wie es sein muss – kurz vor den Tränen – und sie gaben mir zum Abschied eine Maske mit. Alle zwei Wochen komme ich in Friedrichsdorf und ich werde mich testen lassen, solange das Testzentrum dort offensteht und wenn ich zurückfahren, muss ich erst durch die Unterführung laufen, an deren Wand jemand ein Stencil gesetzt hat – »Contergan war gestern, die Corona Kinder kommen!«

Und das ist mein Coronajuni 2022, zumindest bis zur Hälfte, die Welt hat gerade andere Sorgen und dennoch las ich erstaunt, dass im März/April 2022 genauso viele Menschen an Corona starben wie im März/April 2021, ich war erstaunt und auch getroffen, weil, das vergisst man dann doch; es können verschiedene Zustände zugleich existieren, vorbei und weiterhin zum Beispiel.