Sommer, 30 Grad, gelbes Gras, wenig Regen, Freibad, kurze Hosen. Die Erkenntnis aus zwei Pandemiesommern war, dass der Pandemiesommer die Pandemie in eine Pause versetzt: Aerosole treiben weg, Zahlen sinken, Entspannung tritt ein. Diesmal ist es anders.
Hätte ich einen Eintrag für den Coronamai 2022 geschrieben, dann hätte er Affenpocken geheißen. Denn darum ging es, ein neuer, vielleicht alter Virus, die Aufmerksamkeitsmechanismen Corona ließen sich darauf lustvoll anwenden, ein einprägsamer Name, und dann doch recht schnell die Information, dass eine Affenpocken-Pandemie eher unwahrscheinlich schien. Dazu der Vermerk, dass die Zahlen weiter sinken, immer wieder der niedrigste Stand seit.
Vielleicht deshalb kein Schreiben. Und ein Schreiben Mitte Juni, weil die Zahlen wieder steigen, der R-Wert bei 1.3, eine Untervariante Omikrons aus Südafrika oder Portugal ersetzt die bisherige Untervariante, ansteckender, offenbar auch krankheitserregender. Aber das läuft neben Tankrabatt und Neun-Euro-Ticket und Sylt und Inflation und immer-noch-Ukraine eher unauffällig her. Man macht sich keine große Sorgen – und in diesem man ist auch ich eingeschlossen – und die Feste werden größer und die Festivals stehen offen und die Masken sind unten und ich verhalten vollkommen irrational; gehe auf Lesungen, Abschiedsfeiern, Konzerte, Kinos (so, wie damals in den 10er Jahren), umarme, stehe dicht, atme aus und noch mehr ein und beim Betreten des Supermarkts setze ich die Maske dennoch auf, eine letzte Reminiszenz an die vergangenen beiden Jahre, eine letzte Barriere, pflichtschuldig, warum auch immer.
Es fällt weiterhin schwer, Gedanken auf die Pandemie zu richten, gerade nach den letzten Tagen, den entsetzlichen Berichten aus Butscha, soviel Grauen und Abgrund, die Nachrichten von den mobilen Krematorien und deren Verwendungszweck, wie soll daneben ein Eintrag bestehen, dass der Gesundheitsminister Anfang der Woche die Isolationspflicht nach einer Infektion aufheben will und diese Aufhebung Stunden später per Twitter zurücknimmt?
Doch fand heute die Coda eines der zentralen Reizthemen der Pandemie statt: die Abstimmung über die Einführung einer Impfpflicht ab sechzig Jahren. Es fühlt sich auch so aus der Zeit gefallen an, viele Monate zu spät erscheint dieser Versuch zu finalisieren, was solange schon triggerte. Eine Debatte aus dem letzten Jahr, die nun erst entschieden wird, all dieser zähe Vorlauf ist einer der Gründe dafür, dass die Impfpflicht – wie erwartet, möchte ich schreiben – abgelehnt wird. Vom Tisch ist damit eine Coronaimpfpflicht, heute und morgen auch.
Vor einigen Wochen habe ich aufgehört, die Coronamonate zu schreiben. Es schien mir obszön und unangebracht, über Inzidenzen Einträge zu verfassen, während Raketen auf Geburtskliniken abgefeuert werden. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, die Wucht, das Leid, das Unfassbare überlagerte alles, war der Blick, waren auch meine Worte (hier einige Gedanken zum Lesen). Wo zwei Jahre lang die Pandemie gewesen war, war nun der Krieg. In einem frühen Eintrag hatte ich überlegt, wann Corona vorbei wäre. Wenn es nicht mehr in den Nachrichten ist, schrieb ich damals. Nun hätte ich damals nicht gedacht, dass die Pandemie nicht im Zentrum steht, weil Krieg ist. Und: Corona ist ja nicht vorbei.
Im Gegenteil. In den letzten Wochen Höchststände bei den Neuinfektionen, 300.000, jeder zweite Test positiv. Es wird sich angesteckt, objektiv lässt sich das an den Zahlen ablesen, subjektiv sehe ich das im nahen Umfeld: viele Isolationen. Damit tritt auch ein, was prognostiziert wurde: viele Ausfälle, gerade im Gesundheitswesen.
Zeitgleich zu diesen Ansteckungen findet der Freedom Day statt, ein Name, der aus vielerlei Gründen so unpassend ist: das Beenden der Maßnahmen. Erst mal ein technischer Vorgang, vor allem ein Symbol. Die Politik betrachtet das Virus nicht mehr als Bedrohung für die Gesellschaft und handelt entsprechend.
Ab dieser Stelle vorerst kein neuer Eintrag mehr, es fühlt sich momentan nicht richtig und wichtig an, an den Coronamonaten weiterzuschreiben.
26. Februar | Kulissenwechsel
Wenig überraschend schiebt sich das Querdenken nahtlos über den Putinkrieg. Das Muster, das bisher für die Pandemie galt, wird nun auf die Ukraine gestülpt. Die Kulisse ändert sich, die Bühne bleibt, diese Umkehr des Denkens. Nicht in einer guten, produktiven Weise, die einen zwingt, die eigene Position zu NATO, Militarisierung, Ostpolitik, Medien, Energiepolitik kritisch zu hinterfragen, sondern dumpf, bockig, wehleidig, offensichtlich manipuliert, maßlos. Auch klar: Sowie Putin seinen Krieg verloren haben wird, wird die nächste Kulisse aufgebaut werden.
Ansonsten: Ab heute beginnt in Deutschland die Impfung mit dem proteinbasierten Impfstoff Novavax.
25. Februar | schreiben könnte ich
Schreiben könnte ich, dass heute, am vorletzten Abend meiner Isolation, der Schnelltest weiterhin einen zweiten Strich anzeigt und ich nicht so recht weiß, was ich von dieser positiven Information halten soll, es erscheint irrelevant, jede Information über Corona scheint unwichtig, wie etwas von gestern, überholt, zu den Akten gelegt angesichts der weiterhin unwirklichen Nachrichten aus der Ukraine – Häuserkampf in Kiew, selbstgebastelte Molotowcocktails gegen russische Soldaten, rollende Panzer, Väter, die sich weinend von ihren Kindern verabschieden, um in den Kampf zu ziehen, 20000 Maschinengewehre, die Zivilisten überreicht werden, erhöhte Strahlungswerte im eroberten Tschernobyl, Metrostationen, in denen Menschen Zuflucht suchen, Raketensperrfeuer, Deutschland, das 5000 Helme Richtung Osten schickt.
24. Februar | die Zukunft, die graue
Heute vor zwei Jahren stand ich in einer Apotheke und kaufte Masken, weil ich die vage Befürchtung hatte, die Zukunft könnte diesen Kauf notwendig machen. Hätte ich damals geahnt, dass ich genau zwei Jahre später das Virus in mir trage und deshalb in Isolation bin, während eine Pandemie über sechs Millionen Opfer gefordert hat, hätte ich geahnt, dass genau zwei Jahre später Putin seine Soldaten die gesamte Ukraine angreifen und zerstören lässt, dann…
Es ist unwichtig, was ich dann gemacht hätte. Ich, diese Einträge sind es angesichts der Nachrichten. Dabei ist heute alles – trotz dessen, dass es die Welt betrifft – auch ich, weil die furchtbaren Ereignisse – ein Krieg – durch mich gehen und ich sie irgendwie verarbeiten muss, etwas, das schlicht unmöglich ist. Wie will ich die Information, dass ein Krieg beginnt, die unzähligen, unkontrollierbaren Informationen, die aus dieser Tatsache folgen, mit irgendwas in Einklang bringen? Soll ich fühlen, Worte wie »furchtbar« schreiben? Soll ich versuchen zu verstehen? Auf dem Laufenden bleiben? Es ist alles zugleich und zugleich ist es nichts, ist alles leer bei jedem Gedanken daran.
Vor zwei Jahren hätte ich niemals angenommen, dass so etwas wie eine Pandemie geschehen könnte. Noch weniger hätte ich angenommen, dass sie zwei Jahre meines Lebens, aller Leben bestimmt. Genauso wenig hätte ich angenommen, dass Putin Raketen auf Kiew schießt. Beides war unvorstellbar. Nein, nicht unvorstellbar. Immer gibt es Szenarien. Es gibt Szenarien von weltweiten Virenausbrüchen, gibt Szenarien von Kriegen. Das Schlimme ist vorstellbar. Es ist nur unvorstellbar, dass es Realität wird, Teil der nicht mehr gestaltbaren Zeit.
In der Pandemie ging und geht es unablässig darum, die nahe Zukunft zu kennen. Das war möglich und war es zugleich nur bedingt. Einher ging die Erkenntnis, dass trotz aller Prognosen, allem Wissen das Handeln eingeschränkt ist, das das Wissen um die Zeit nicht das bestmögliche Handeln garantiert. Nichts Neues unter dem Himmel, alle Zyniker finden sich bestätigt. Ich wollte niemals zynische Einträge schreiben.
Ja, eigentlich ist heute der Tag, an dem ich diese Coronamonate beenden wollte. Sollte. Zwei Jahre sind genug Worte dafür. Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird. Schreibe ich bis Sonntag, bis ich die Isolation verlassen habe, ist das mein persönliches Ende der Pandemie, ein privater Schlusspunkt als universeller Schlusspunkt?
Vielleicht, vielleicht nicht. Jedenfalls das niederschmetternde Gefühl, dass die Pandemie weiterhin ist und sein wird und dennoch von jetzt an etwas Neues den Blick bestimmt, nicht ganz so nah, nicht ganz so komprimiert, noch undurchsichtiger, noch invasiver, ein Schnitt in der Zeit, unumkehrbar, etwas, das lange bleiben wird, das die nächsten Jahre, die 20er Jahre bestimmen wird, die Zukunft, die graue.
Wir sitzen im Garten, das Abendrot über uns längst verschwunden, in den Zonen der Stadt, wo Feuerwerk erlaubt ist, knallt es schon, in den anderen auch. Weil wir keinen Stift bei uns haben, flüstern wir die Dinge, die wir hinter uns lassen wollen, in Zettel hinein, ein Ritual der Rauhnächte. Wir werfen sie in die Feuerschale, die Papiere und damit die Dinge, von denen wir uns lösen wollen. Das Holz zur Glut runtergebrannt, reicht das Feuer noch für einen letzten Brand, fressen die Flammen die unsichtbaren Worte. Ich flüstere die gesamten Einträge, auch wenn das Papier dafür nicht reicht und das Feuer ebensowenig, ist es das, was ich vom neuen Jahr begehre.
Ansonsten: In Israel beginnen die vierten Coronaimpfungen für Immungeschwächte. Mehrere Länder melden Höchstwerte an Neuinfektionen.
Der R-Wert fällt unter eins, die Neuinfektionszahlen stagnieren, die Sieben-Tage-Inzidenz sinkt, von einem Plateau wird gesprochen: das erste Mal seit vielen Wochen ein Trend, der das Wachsen unterbricht. Gute Nachrichten, möglicherweise in der Summe die Folgen der eingeführten Beschränkungen, einer allgemeinen Verhaltensänderung, den steigenden Impfzahlen. Ich höre das gern, fühle bereitwillig anders als in den letzten langen Tagen.
Zugleich ist von einem Meldeverzug die Rede, von den überlasteten Labors, davon, dass wegen der Nachmeldungen der R-Wert zuletzt stets nachträglich nach oben korrigiert werden musste, den rotbeleuchtenden Krankenhäuser, die auf ihre Fassaden SOS schreiben, lauter Hinweise, dass die Zahlen nicht das vollständige Bild zeigen, dass das scheinbare Plateau viel zu früh als Zeichen für eine Entspannung dienen könnte. Wie wird dieses Plateau gedeutet werden? Wie werden sich die Entscheidungen und Ankündigungen des heutigen Tages auf die nächsten Wochen auswirken? Gibt es wirklich eine neue Tendenz oder weiterhin die Überlastung, die Eskalation?
Und wenn ich länger über diesen Eintrag nachdenke, merke ich, wie sehr ich in den letzten zwanzig Monaten mein Wohlbefinden auch von den täglichen Coronazahlen abgehängig gemacht habe, wie sehr sich meine Stimmung in Richtung des Corona-Trend-Pfeils justiert. Selbst wenn diesem nicht zu trauen ist, genügt es, mich heben zu lassen.
Ansonsten: Der zukünftige Bundeskanzler spricht sich für eine Impfpflicht aus. Laut einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts war die Notbremse verfassungsgemäß. Ein General wird den zukünftigen Corona-Krisenstab leiten. Nach einem Urteil kann das Verfremden eines Judensterns (z.B. ungeimpft) nun strafrechtlich verfolgt werden. In Sachsen und Thüringen wird gegen die Maßnahmen demonstriert. Weil immer wieder Mitarbeiterinnen beschimpft werden, schließt ein Testzentrum in Zittau.
Bin so stolz auf Deutschland, dass wir den magischen Sweetspot gefunden haben bei dem wir zu wenig Maßnahmen haben um wirklich etwas gegen die Pandemie zu tun, aber genug damit es trotzdem im Alltag nervt.
Zwei Karten nebeneinander, beide zeigen Inzidenzdeutschland. Eine Karte ist von Ende Oktober 2020, die andere von Ende Oktober 2021. Auf der frühen Karte sind die Landkreise mehrheitlich gelb und hellrot, auf der heutigen dunkelrot, auch violett. Die Zahlen auf der aktuellen Karte liegen alle über denen der Pandemie von vor einem Jahr; Inzidenz, Intensivpatentinnen, Tote. Auch die Impfquote ist höher: 2020 0%, 2021 69%.
Die Karte und die Zahlen sagen, dass die Situation heute nicht allein ähnlich ist wie am Beginn des ersten Coronawinters. Sie ist dramatischer. Die Erklärung dafür lässt die Gegenüberstellung offen. Unterhalb der Karten wird spekuliert: Sind es die Impfungen, die sich unwirksam erweisen? Delta im Vergleich zum Wildtyp? Die Maßnahmen vom 2020 im Vergleich zu 2021? Ein verändertes Verhalten der Menschen?
Momentan liegt der R-Wert bei 1,25, eine Verdopplung etwa alle zwei Wochen. Bis Ende November, wenn die die epidemische Lage nationaler Tragweite für beendet erklärt ist, würde nach dieser Verdopplung die Inzidenz bei 600 liegen. Ich weiß, dass diese Rechnungen nie so aufgehen, ich weiß es, ich gehe davon, was könnte die Kartenfarben ändern bis dahin?
Ansonsten: Die Inzidenz für Kinder zwischen 5-14 Jahren liegt in Weimar bei 1147.
Mit #allesaufdentisch gibt es eine Art Nachfolgeaktion zu #allesdichtmachen und ich bin froh, dass es mich nicht drängt, mehr darüber zu schreiben als das, weil ich so wenig Interesse verspüre, Wotan Wilke Möhring im Gespräch mit Joachim Steinhöfel über die Meinungsfreiheit zu erleben.
Ein Artikel einer großen deutschen Tageszeitung macht auf mit der Schlagzeile, dass Corona bei 80 Prozent der offiziellen Covid-Toten nicht Todesursache sei. Beim Lesen wird deutlich, dass damit die (vergleichsweise geringen) Zahlen seit Anfang Juli 2021 gemeint sind und dass »die zugrundeliegende Infektion schon länger als fünf Wochen zurückliegt und man daher eher davon ausgehen muss, dass Corona nicht die wirkliche Todesursache war.« Später distanziert sich der befragte Wissenschaftler davon, die Überschrift sei »in ihrer Allgemeinheit falsch und würde von uns niemals so vertreten werden.« Dennoch wird der Artikel entsprechend verbreitet, der Tenor der Überschrift – kaum Tote durch Corona – bleibt bestehen.
Eine andere große Tageszeitung veröffentlicht einen Beitrag, der behauptet, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zur Gefährlichkeit des mRNA-Impfstoffes unterdrückt werden. Als Beleg bezieht sich der Artikel auf Studien, die nirgends auffindbar sind.
In Amerika warnt die Behörde für Nahrungsmittel und Medikamente: »Sie sind kein Pferd. Sie sind keine Kuh«, weil Impfgegnerinnen ein Entwurmungsmedikamente für Pferde einnehmen, lieber nehmen sie ein Entwurmungsmedikament für Pferde ein, als sich impfen zu lassen und ich frage mich, wie oft ich Einträge wie diese schreiben werde, ob ich solche Einträge schreiben werde, so lange ich über die Pandemie schreibe.
Ansonsten: Mehrere Ministerien sprechen sich gegen eine 3G-Regel in Zügen aus. In Hamburg schließt Deutschlands größtes Impfzentrum. Das Bundeskabinett beschließt, dass zukünftig die Hospitalisierungsrate das entscheidende Kriterium für Coronamaßnahmen ist. Nach mehr als einem Jahr Fernunterricht kehren die mexikanischen Schülerinnen zurück in die Klassenräume. In Amerika schalten mehrere Kinderkrankenhäuser eine Anzeige, in der sie dazu aufrufen, Kinder vor Covid19 zu schützen.