15. April | selbstverständlich

Dafür, dass die Situation wenig Anlass zu Zuversicht bietet, bin ich relativ gelassen. Ich esse sogar Spargel. Und dass, obwohl die Notbremse des geänderten Infektionsschutzgesetzes noch einige gemütliche Runden drehen wird, bis sie wirksam wird, was ohnehin nicht von entscheidender Bedeutung ist angesichts der nicht geplanten Änderungen am Bisherigen, die weiterhin das Private verknappen und das Andere zu wenig die Pflicht nehmen. Dass trotz zumindest in Thüringen nur lauwarm funktionierenden Selbsttests in Schulen. Dem Aussetzen des Impfstoffes von Johnson&Johnson. Dass trotz der knapp 30000 Neuinfektionen, dem höchsten Stand seit Anfang des Jahres. Den unablässigen Warnungen der Intensivmediziner:innen, die vorrechnen, wie die Situation angesichts heutiger Zahlen in drei Wochen aussehen wird; jüngere Kranke, die länger die Betten belegen. Dass trotz des Einsatzes von Wirtschaftsverbänden, die gegen die Bitte der Regierung, doch wenn möglich ab und an zu testen, aus Kostengründen klagen. Dass die Coronapolitik der Union momentan nur eine Funktion hat: die des Gradmessers für die Tauglichkeit des noch zu bestimmenden Kanzlerkandidaten.
Warum bin ich gelassen? Vielleicht weil in dieser Phase der Pandemie so viel selbstverständlich geworden ist. Es ist selbstverständlich, dass die Maßnahmen nicht wirksamer gestaltet werden, weshalb meine Beschwerden darüber selbstverständlich geworden sind. Es ist selbstverständlich, dass es in den Schulen während der Pandemie nicht läuft. Es ist selbstverständlich, dass die Grenzwerte, anhand derer eine Bedrohungslage zu erkennen ist, je nach Bedarf verschoben werden. Selbstverständlich, dass Teile der Wirtschaft die Lasten tragen, genauso wie es selbstverständlich ist, dass der Großteil der restlichen Wirtschaft diese Lasten nicht trägt, sondern klagt, wenn es Teile der Last tragen soll. Es ist selbstverständlich, dass ich davon ausgehe, dass alles irgendwie auf dieser Ebene bleiben wird, selbstverständlich, dass ich keine Kraft/Interesse/Zeit habe, einen anderen Blickwinkel auf die Pandemie zu finden als das erschöpfte Klagen, selbstverständlich, dass diese Einträge selbstverständlich sind, sie ist mir selbst unverständlich diese Selbstverständlichkeit.
Ansonsten: Überlegungen, dass die seltenen schweren Nebenwirkungen nach einer Impfung AstraZeneca und Johnson & Johnson mit dem Vektorimpfstoff in Verbindung stehen können. Wegen Corona sinkt die Zahl der Ausbildungen um zehn Prozent. Deutsche Aerolsol-Forscher halten Ausgehverbote für kontraproduktiv und fordern stärkere Maßnahmen in Innenräumen. Mehr als 50 Millionen Biontech-Impfstoffdosen sollen bis Ende Juni zusätzlich an die EU geliefert werden. Weil Dänemark kein AstraZeneca mehr impfen will, will Tschechien diese Dosen abkaufen. In England entstehen 83 Long-Covid-Zentren, in denen die Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung behandelt werden. Alltag in Flüchtlingsunterkünften während der Pandemie.
14. April | Weimarer Urteil

Auch wenn ich in diesen Einträgen öfter festhalte, dass das, was Ursache der Pandemie ist, in meiner unmittelbaren Umgebung kaum stattfindet, findet die Pandemie doch statt. Aber anders, geradezu als Gegenteil der Pandemie.
Eine kurze Chronologie über Corona-Weimar. Weimar ist die erste Stadt, die nach der ersten Welle die Außengastronomie wieder öffnet. Im Juni ist Weimar einen Monat lang die Stadt mit der Inzidenz von Null. Im Oktober, während der ansteigenden Zahlen der zweiten Welle, findet in Weimar ein Volksfest mit 70000 Besucher:innen statt. Erst kurz vor Weihnachten wird der Weimarer Weihnachtsmarkt abgesagt. Mitten in der dritten Welle öffnet Weimar im Rahmen des »Weimarer Modells« die Geschäfte.
Und dann sind noch Urteile und Beschlüsse, die am Weimarer Amtsgericht, in dem Gebäude, das Drehort des Polizeipräsidiums des Weimarer Tatorts ist, getroffen werden. Anfang des Jahres erklärt ein Richter aus Weimar die während der ersten Welle getroffenen Maßnahmen für rechtswidrig. Und vor wenigen Tagen der Beschluss, der die Maskenpflicht an Schulen aufheben soll.
Der Beschluss umfasst fast zweihundert Seiten. Wenig liegt mir ferner, als diese zu lesen, aus Zeitgründen, aus Gründen der juristischen, der wissenschaftlichen Verständlichkeit. Andererseits wüsste ich schon gern, was darinsteht. Ich bin, wie nahezu ausschließlich in der Pandemie, auf Texte angewiesen, die Sachverhalte zusammenfassen und erklären.
Juristisch wird der Beschluss auseinandergenommen. Von Rechtsbeugung ist die Rede, unzureichender Begründung, einem Einzelfall, der unrechtmäßig aufs Ganze hochskaliert wird, von einer gezielten Klage, die an einen bestimmten Richter adressiert war, Unstimmigkeiten, Unsauberkeiten werden benannt, »wird nicht haltbar sein« wird in den Metatexten deutlich.
Wissenschaftlich ebenso vernichtende Beurteilungen. Der Beschluss als eine Art Greatest Hits der Coronaleugnermythen; von Virenzyklen über PCR-Tests bis hin zur Maskenfrage finden sich dort jene Beweisführungen, die auch in den Channels kursieren. Durch diese Channels wandert der Beschluss, wird gefeiert, das »Weimarer Urteil« wird selbst Mythos, als Beweis eingereiht zu den anderen Beweisen, das Gegenteil der Pandemie.
Ansonsten: Eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes tritt den Weg durch Beschlussrunden an. Mehrere Wirtschaftsverbände kündigen an, gegen das geplante Angebotsgebot zum Testen in Firmen zu klagen. Für vollständige Geimpfte sollen zukünftig keine Tests oder Quarantäne mehr nötig sein. Laut einer Studie ist B117 ansteckender, aber nicht tödlicher als der Wildtyp. Coronagegner:innen machen mobil gegen Dr. Kasperls Coronatest, ein Video der Augsburger Puppenkiste, in dem Kindern Coronatests erklärt werden. Coronagegner:innen machen mobil gegen Schülervertreter:innen, die eine Coronatestpflicht an Schulen fordern.
13. April | kleiner Klopfer

Es gibt sie noch, die guten Nachrichten. Samstagvormittag lief ich durch den Park. Auf einer Bank vor dem Bauhaus-Museum sah ich mehrere leergetrunkene Kleinstflaschen alkoholischer Getränke. Ich fotografierte, wie so vieles, und stellte wenig später das Bild auf Instagram. Dazu schrieb ich »Symbolbild nächtliche Ausgangssperre«. Wie immer verwendete ich drei Hashtags, diesmal #pandemie #parkbank sowie #kleinerklopfer, weil die Flaschen sogenannte Kleiner Klopfer waren.
Zwei Tage später kommentierte kleiner.klopfer unter dem Bild. Er schrieb, dass ich einer von drei Preisträgern der Aktion »Kleiner Klopfer auf Fotoreisen« sei und den 25er Sunshine Mix inklusive einem Sun Visor gewonnen habe. Das ist das Gute an der Pandemie: Ohne sie hätte ich nie das Foto hochgeladen, weil es ohne pandemiebezogene Bildunterschrift keinen Grund dafür gegeben hätte; es wären einfach nur leere Alkoflaschen gewesen. Die Pandemie lieferte den Kontext, ohne Pandemie hätte ich diesen Preis nie erringen können. Und auch wenn ich lieber ein Asthmaspray Budesonid von AstraZeneca gewonnen hätte, ist angesichts der angestrebten Beschlüsse zur Notfallbremse ein 25er Sunshine Mix möglicherweise nicht vollkommen nutzlos.
Ansonsten: Aufgrund des Todes von Prinz Philip verschiebt Boris Johnson das angekündigte Trinken eines Bieres in einem nun wieder geöffneten Pub. Kritik an der geplanten Ausgangssperre. Mit einer Million Coronatoten ist Europa die am stärksten von der Pandemie betroffene Region der Welt. Über leere Intensivstationen.