1. Tocotronic – Schall & Wahn
Mittlerweile könnte ich fünfzig oder viel mehr Begebenheiten zu dieser Band erzählen. Mit „Schall & Wahn“ kommt mindestens eine neue hinzu. Weil: hier ist alles Irritation. Das Blumenstrausscover. Die verschachtelten Texte. Die Ausbrüche aus dem Uneindeutigen. Das Ausschweifen der Musik. Und selbst das obligatorische Lied, bei dem sich mir die Fußnägel aufrollen, ist dabei: „Die Folter endet nie.“ Ansonsten viele musikalische Ebenen. Ein langer Weg von „Ich bitte dich“ bis zu „Gift.“ So gut wie keinen Schritt davon möchte ich missen. Auch weil „Im Zweifel für den Zweifel“ möglicherweise alles zusammenfasst, für was die Band stand und steht. Fürs Zerreißen der eigenen Uniform. Unter anderem.
2. Turbostaat – Das Island Manøver
Das ø gibt die Richtung vor. Denn dieser kryptischer Postpunk geht glücklichweise keine Kompromisse ein. Eine Einheit von Text und Musik, die ebenso rätselhaft wie rätselhaft ist. Wer behaupten kann, jede Zeile verstanden zu haben, muss lügen. Dabei wird Entschlüsseln allgemein überwertet. Wichtig ist doch, was das Rätsel mit einem macht. In meinem Fall: das Beste. Sowie: Assoziationen, die mittlerweile Welten erschaffen haben. Großer Pluspunkt im Wunderwerk sind die präzisen Gitarren. Und wird auch im nächsten Jahr eine Rolle spielen. Hand in Hand mit Tigern.
3. Spaceman Spiff – Bodenangst
Jedenfalls wäre es absurd, schon zum dritten Mal eine unreflektierte Lobeshymne an den Peter Pan der Melancholie zu schreiben. Denn im Prinzip ist das Entscheidende längst gesagt: „Spaceman Spiff singt Texte, die in jedem Wort mehr Herz und Hirn haben als das Gesamtwerk von … . Und an dieser Stelle kann man ganz objektiv 97 Prozent aller deutschsprachigen Musik einsetzen und bei Bedarf sowie in Zuständen der Melancholie noch ein oder zwei Prozente addieren.“ Daran hat sich ein halbes Jahr und zwei Konzerte später nichts geändert. Man wünscht ihm die Weltherrschaft.
4. Stars – The Five Ghosts
Stars. Bisher außer „Elevator Love Letter“ ein weiteres kanadisches Superkollektiv, welches in jeder Menge Harmonie schwelgt. Dann aber „The Five Ghosts.“ In dieser Rubrik rufe ich ja gern mit zweifelhafter Selbstverständlichkeit das Popalbum des Jahres aus, ohne dabei zu begründen, was unter Pop zu verstehen ist. Eine Erklärung zur Definition wird 2010 überflüssig. Man muss nur diese elf fabelhaften Stücke hören. Einen Favoriten zu nennen fällt schwer. Weil doch hier alles am perfekten Platz ist. Wohlklang und Melodie in Vollkommenheit.
5. Danger Mouse & Sparklehorse – Dark Night of the Soul
Mark Linkous wird fehlen. Dies ist das traurige Fazit dieses schon 2009 erschienenen Tributs. Das andere: die meisten Gastsänger waren selten besser als hier: Julian Casablancas, Nina Persson, Jason Lytle, Gruff Rhys … die Liste ließe sich fortsetzen. Ein Best-of, eine Greatest-Hits-Kompilation, die auf den Punkt die Stärken jedes Beteiligten ausspielt. Und deshalb umso schmerzhafter anzuhören. Weil doch klar ist: so wird es nie wieder sein.
6. These New Puritans – Hidden
Meiner Deluxe-Ausgabe lag ein gebundenes Notenbuch bei: „Hidden“ für alle Interessierten zum Nachspielen. Selbstverständlich ein vergebenes Unterfangen. Denn Musik ist soviel mehr als nur Noten zu spielen. Gerade bei dieser ersten bedeutenden Sinfonie der Dekade. Hier werden Grenzen gesprengt und zu einem Gesamtkunstwerk zusammengefügt, zu dem man wahlweise tanzen oder Dissertationen verfassen kann.
7. Olafur Arnalds – And They Have Escaped the Weight of Darkness
Dagegen eine Frohnatur: Eyjafjallajökull.
8. Warpaint – The Fool
Da war ich erstaunt, für wieviel Aufsehen „The Fool“ gesorgt hat. Weil: beim ersten Höreindruck scheint die Musik unspektakulär. Verspielt um die Ecke gedacht, ohne klare Strukturen, ein Sog gewissermaßen. Deshalb ja auch „Undertow.“ Und wie das bei einem Sog so ist: irgendwann hat er einen. Lässt er nicht mehr so schnell los. Trotz des Verzichts auf die Postrockelemente. Willkommen in der Vergangenheit.
9. Die Sterne – 24/7
Eine Menge ist passiert, seitdem ich das erste Mal dachte: „Naja. Disko. Und wo sind die Texte?“ Denn Slogans funktionieren auch. Ausgezeichnet. Und das ist der Verdienst einer Band, die seit so vielen Jahren für so viele Worte und Melodien sorgt, die längst ihren Weg in den Alltag gefunden haben. Deine Pläne stehen? Du solltest meine sehen.
10. Dendemann – Vom Vintage verweht
Sprechgesang. Nicht unbedingt das Genre, zu dem ich gern etwas zu sagen habe. Das war in diesem Jahr etwas anders. M.I.A., Kanye West, Kid CuDi und eben Dendemann. Von Vorteil natürlich, dass er diesmal auf Gitarren setzt. Und viel mehr noch auf Wortspiele. Die sind natürlich albern. In etwa ein Prozent der Fälle. Der ganze Rest ist eine einzige Freude. Hintergründig, auf der Höhe der Zeit und niemals altklug. Was er hier in vier Minuten verbrät, dafür würden neunundneunzig Prozent der Stand-Up-Comedians und auch viele andere, die beruflich mit Sprache zu tun haben, ihr letztes Hemd geben.
Ebenso wichtig: