Jahresliste: Alben 2010. Superlative im Zehnerpack.

1. Tocotronic – Schall & Wahn

Mittlerweile könnte ich fünfzig oder viel mehr Begebenheiten zu dieser Band erzählen. Mit „Schall & Wahn“ kommt mindestens eine neue hinzu. Weil: hier ist alles Irritation. Das Blumenstrausscover. Die verschachtelten Texte. Die Ausbrüche aus dem Uneindeutigen. Das Ausschweifen der Musik. Und selbst das obligatorische Lied, bei dem sich mir die Fußnägel aufrollen, ist dabei: „Die Folter endet nie.“ Ansonsten viele musikalische Ebenen. Ein langer Weg von „Ich bitte dich“ bis zu „Gift.“ So gut wie keinen Schritt davon möchte ich missen. Auch weil „Im Zweifel für den Zweifel“ möglicherweise alles zusammenfasst, für was die Band stand und steht. Fürs Zerreißen der eigenen Uniform. Unter anderem.

2. Turbostaat – Das Island Manøver

Das ø gibt die Richtung vor. Denn dieser kryptischer Postpunk geht glücklichweise keine Kompromisse ein. Eine Einheit von Text und Musik, die ebenso rätselhaft wie rätselhaft ist. Wer behaupten kann, jede Zeile verstanden zu haben, muss lügen. Dabei wird Entschlüsseln allgemein überwertet. Wichtig ist doch, was das Rätsel mit einem macht. In meinem Fall: das Beste. Sowie: Assoziationen, die mittlerweile Welten erschaffen haben. Großer Pluspunkt im Wunderwerk sind die präzisen Gitarren. Und wird auch im nächsten Jahr eine Rolle spielen. Hand in Hand mit Tigern.

3. Spaceman Spiff – Bodenangst

Jedenfalls wäre es absurd, schon zum dritten Mal eine unreflektierte Lobeshymne an den Peter Pan der Melancholie zu schreiben. Denn im Prinzip ist das Entscheidende längst gesagt: „Spaceman Spiff singt Texte, die in jedem Wort mehr Herz und Hirn haben als das Gesamtwerk von … . Und an dieser Stelle kann man ganz objektiv 97 Prozent aller deutschsprachigen Musik einsetzen und bei Bedarf sowie in Zuständen der Melancholie noch ein oder zwei Prozente addieren.“ Daran hat sich ein halbes Jahr und zwei Konzerte später nichts geändert. Man wünscht ihm die Weltherrschaft.

4. Stars – The Five Ghosts

Stars. Bisher außer „Elevator Love Letter“ ein weiteres kanadisches Superkollektiv, welches in jeder Menge Harmonie schwelgt. Dann aber „The Five Ghosts.“ In dieser Rubrik rufe ich ja gern mit zweifelhafter Selbstverständlichkeit das Popalbum des Jahres aus, ohne dabei zu begründen, was unter Pop zu verstehen ist. Eine Erklärung zur Definition wird 2010 überflüssig. Man muss nur diese elf fabelhaften Stücke hören. Einen Favoriten zu nennen fällt schwer. Weil doch hier alles am perfekten Platz ist. Wohlklang und Melodie in Vollkommenheit.


5. Danger Mouse & Sparklehorse – Dark Night of the Soul

Mark Linkous wird fehlen. Dies ist das traurige Fazit dieses schon 2009 erschienenen Tributs. Das andere: die meisten Gastsänger waren selten besser als hier: Julian Casablancas, Nina Persson, Jason Lytle, Gruff Rhys … die Liste ließe sich fortsetzen. Ein Best-of, eine Greatest-Hits-Kompilation, die auf den Punkt die Stärken jedes Beteiligten ausspielt. Und deshalb umso schmerzhafter anzuhören. Weil doch klar ist: so wird es nie wieder sein.

6. These New Puritans – Hidden

Meiner Deluxe-Ausgabe lag ein gebundenes Notenbuch bei: „Hidden“ für alle Interessierten zum Nachspielen. Selbstverständlich ein vergebenes Unterfangen. Denn Musik ist soviel mehr als nur Noten zu spielen. Gerade bei dieser ersten bedeutenden Sinfonie der Dekade. Hier werden Grenzen gesprengt und zu einem Gesamtkunstwerk zusammengefügt, zu dem man wahlweise tanzen oder Dissertationen verfassen kann.

7. Olafur Arnalds – And They Have Escaped the Weight of Darkness

Dagegen eine Frohnatur: Eyjafjallajökull.

8. Warpaint – The Fool

Da war ich erstaunt, für wieviel Aufsehen „The Fool“ gesorgt hat. Weil: beim ersten Höreindruck scheint die Musik unspektakulär. Verspielt um die Ecke gedacht, ohne klare Strukturen, ein Sog gewissermaßen. Deshalb ja auch „Undertow.“ Und wie das bei einem Sog so ist: irgendwann hat er einen. Lässt er nicht mehr so schnell los. Trotz des Verzichts auf die Postrockelemente. Willkommen in der Vergangenheit.

9. Die Sterne – 24/7

Eine Menge ist passiert, seitdem ich das erste Mal dachte: „Naja. Disko. Und wo sind die Texte?“ Denn Slogans funktionieren auch. Ausgezeichnet. Und das ist der Verdienst einer Band, die seit so vielen Jahren für so viele Worte und Melodien sorgt, die längst ihren Weg in den Alltag gefunden haben. Deine Pläne stehen? Du solltest meine sehen.

10. Dendemann – Vom Vintage verweht

Sprechgesang. Nicht unbedingt das Genre, zu dem ich gern etwas zu sagen habe. Das war in diesem Jahr etwas anders. M.I.A., Kanye West, Kid CuDi und eben Dendemann. Von Vorteil natürlich, dass er diesmal auf Gitarren setzt. Und viel mehr noch auf Wortspiele. Die sind natürlich albern. In etwa ein Prozent der Fälle. Der ganze Rest ist eine einzige Freude. Hintergründig, auf der Höhe der Zeit und niemals altklug. Was er hier in vier Minuten verbrät, dafür würden neunundneunzig Prozent der Stand-Up-Comedians und auch viele andere, die beruflich mit Sprache zu tun haben, ihr letztes Hemd geben.

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Jahreslisten: Lieder 2010 | Fünfundsiebzig Fixsterne.

Selbstverständlich ist es vollkommener Unsinn, eine solche Liste zu erstellen. Warum 75 Plätze und nicht 101 oder 23? Sollte HGicht tatsächlich vor „The Aftermath“ oder „Sometimes Things Get Broken“ platziert sein? Kann man „Knut“ und „NY is killing me“ tatsächlich objektiv miteinander vergleichen? Ist es gerechtfertigt, die ersten acht Plätze für deutschsprachrige Titel zu reservieren? Letztenendes ist das egal. Weil das Erstellen dieser Liste eine meditative Funktion erfüllt hat. Beim Beschäftigen mit der Musik in diesem Jahr ist mir noch einmal klar geworden, wieviel ausgezeichnete Musik es in diesem Jahr gegeben hat. Wie sehr mir die Lieder der ersten dreißig (plus x) Plätze in den vergangenen 365 Tagen ans Herzen gewachsen sind. Und die Sicherheit zu wissen, dass mich diese Texte und diese Melodien noch begleiten werden. Deshalb diese Liste. Die Zahlen davor kann man sich ja wegdenken.

1. Tocotronic – Im Zweifel für den Zweifel

Im Zweifel für die Zwischenstufen. Für das Zaudern. Für die äußerste Zerbrechlichkeit. Mehr Mut machen kann kein Text.

Im Zweifel fürs Erzittern beim Anblick der Chimären

2. Turbostaat – Pennen bei Glufke

Manchmal genügt der erste Klang (in diesem Fall geschlagene leere Gitarrensaiten) und man weiß: man gehört zusammen. Glufke vs. den Mob, gegen die diffuse Bedrohung, gegen sovieles, was nicht richtig läuft. Wobei richtig natürlich immer noch von einem selbst definiert wird. Fünf Akkorde, die alles haben, was wichtig ist.

Aufgelöst In der ganzen Welt / Und Angst vor dem Fremden / Wie soll denn sowas gehen?

3. Spaceman Spiff – Egal

Prinzipiell könnte man den ganzen Text mit Zitaten von Spaceman Spiff füllen und wenn die Welt diesen Text dann lesen würde, wäre die Welt besser, schlauer und ehrlicher. Gesungen allerdings, mit Zweifeln und Glockenspielmoll in der Stimme, wird der schwer zu beschreibende Zustand, der das eigene Leben sein könnte, plötzlich in drei oder fünf Minuten auf einen Punkt gebracht, der Umfang und Gewicht mehrerer Sonnensysteme hat.

Komm, nimm Deine Tanzschuhe mit / wir verschwinden in Musik

4. Herrenmagazin – Alle sind so

Quasi der exakt identische Effekt wie beim Vorgängeralbum „Atzelgift“ und „Der langsame Tod eines sehr großen Tieres“: Da war mal ein Gefühl. Riesengroß und gewaltig, so dass es einem fast die Luft nahm. Eine eigene Welt, in der man selbst Mittelpunkt war. Ein Basslauf, zwei gezupfte Töne auf der Gitarre, dazu genau die Worte, die man immer im Kopf hatte, die aber auf dem Weg nach außen verloren gingen. Gedanken über Singlekrüstchen und die eigene Identität wird mit der Neon und den Followern bei Twitter abgeglichen. Ein ganz normales Leben also. Und dann kommen Herrenmagazin.

Keiner will so sein, doch alle sind so / Im Zweifel gut gemeint / Doch alle sind so

5. Dendemann – Papierkrieg

Dendemann erzählt von Rentern im Park, Schachspielen und Steuerberatern. Dazu sampelt er „Explosionen“ von Tocotronic. Reicht.

Ein paar Eichhörnchen bilden einen Kreis um mich / Doch als sie anfangen an meinen Zetteln zu nagen / platzt mir aber so was von der speckige Kragen

6. HGicht – Künstlerschweine

HGicht, die Broken Social Scene Deutschlands. Statt Harmonie im Kollektiv Schranz an der Tanke. Die obligatorische Ballade jeder Band beschäftigt sich mit dem Phänomen Perfomancekunst. Mehr davon und weniger Flashmobs in Telekommunikationsreklamen. Die Szene, in der der Elfenpolizist aus „Tutenchamun“ aus Lego ein Kunstwerk bastelt, verstört mich auch beim zehnten Anschauen noch.

Er kommt aus Kiel / und weiß nicht viel / doch genug um ihr zu imponieren

7. Wir sind Helden – Meine Freundin war im Koma und alles, was sie mir mitgebracht hat, war dieses lausige T-Shirt

Verstanden habe ich nicht, weshalb gerade diese Band so angefeindet wird. Oder weshalb ein so biederer Schlagerfuzzi wie Unheilig mit Kalendersprüchen Millionen von Platten verkauft, aber „Bring mich nach Hause“ eher so am Rande lief. Weil „Meine Freundin war im Koma…“, das Lied mit dem eher krawalligen Titel, doch so deutlich zeigt, weshalb die Band zu den Guten gehört. Wer hier nur einmal atmet oder zwinkert, hat schon alles verpasst.

und hinten drauf steht kleingedruckt / dann noch World’s End

8. Gisbert zu Knyphausen – Seltsames Licht

Seltsamerweise ist dieses Lied meine erste Begegnung mit Gisbert zu Knyphausen. Bei Facebook zeigen ja alle zwei Tage Statusmeldungen an, wie sehr seine Texte und Gitarre doch geschätzt werden. Vielleicht 2011 für mich auch auf Albumlänge. Weil:

Und so wie es war, soll es nie wieder sein / So wie es ist, darf es nicht bleiben / Wie es dann wird, kann vielleicht / nur der bucklige Winter entscheiden

9 . Blur – Fools Day

Eine Menge Rückkehr gab es 2010. Wie in jedem Jahr. Über keine habe ich mich mehr gefreut als die von Blur. In der originalen Besetzung. Zu viert. Mit einem Lied, welches zu ihrem besten gehört. Schlicht und doch ergreifend, abgeklärt und punktgenau. Die Hoffnung ist, dass die Band dies genauso sieht und deshalb bald ein Album aufnimmt.

So meditate / On what we’ve all become / On a cold day in springtime

10. The Kays Lavelle – Aftermath

Knapp sechs Minuten, nach denen nichts mehr so ist, wie es war.

I am not scared

11 – 30

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Wollen glitzern. MELT! 2010.

@J. Dietrich

Jedes Festival ist ein Organismus von zehntausenden Zellen. Jede Zelle handelt auf eigene Faust, aber nur in der Summe aller ergibt sich ein einigermaßen faires Bild. Man müsste jeden zu Wort kommen lassen: die Busfahrer und Veggiburgerverkäufer, die Kameramänner und Ordner vor den Baggern, die PromostandbetreuerInnen und Sanitäter, die Bands und Dixitransporteure und – natürlich – die Besucher. Die tun gut daran, zuerst den Fashion Guide im Festivalheft zu studieren und dann gegen möglichst viele der flockig formulierten Dogmen zu verstoßen. Manche tun das nicht; die tragen Jutebeutel oder Plastiksonnenbrillen oder goldene Stirnbänder zu Gummistiefeln. Die anderen führen sich mit Fächern Luft zu und sprühen Glitzerpartikel in Augenaußenpartien, in denen sich Sonnenlicht reflektiert, bis die Temperatur am Ferropolis auf um die mindestens 40 Grad gestiegen ist. Deshalb lautet der wichtigste Satz des Freitags auch „Wie geil, ich werde angespritzt“, wenn zufällig ein Tetrapack Wasser zerplatzt und Tropfen die Umstehenden benetzen.

@J. Dietrich
Man hintergeht das System und holt sich Wasser aus den sanitären Anlagen auf dem Gelände, um von Schattenfleck zu Schattenfleck vorsichtig in Richtung Bühne zu springen. Dort sind die höchstens semilustigen Bonaparte, die diesjährige Band in farbenfrohen Kostümen. Der Tod trägt schwarz und simuliert Beischlaf mit einem Pferd oder Badewannenmädchen. Provokation war früher einfacher. Lachen auch.

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