23. Januar | gereizte Gleichgültigkeit
War das gestrige Wort »Motivation«, ist es heute »Gleichgültigkeit«. Im Gespräch über den fortgesetzten Lockdown sagt mein Gegenüber, dass er jetzt gleichgültiger sei, alles sei ihm egaler, er halte das für gefährlich, aber so sei eben sein Befinden momentan.
Ich kann das nachfühlen. Auch bei mir eine Gleichgültigkeit dem Geschehen und den Dingen gegenüber, vielleicht als Selbstschutz eine Lähmung der Stunden und aller Blicke, sicher auch getragen von der festgefahrenen Situation, von der gar nicht mal so kleinen Ahnung, dass sich die Lage über den 15. Februar hinaus verlängern wird und dass das notwendig ist und beschissen zugleich. Um dem Zermürbtwerden zu entgehen, lege ich mir einen Panzer zu und lege ihn gewissenhaft beim Aufstehen an, damit ich aufstehe.
Ab und an drängt in diese Gleichgültige eine Art partielle Gereiztheit, ein aufflammendes Reagieren auf Reize, ein temporäres Zürnen, Neid, ein Sich-benachteiligt-Fühlen, ein Spektrum an Ablehnung, lauter Empörungen, eine unangenehme Dieternuhrhaftigkeit, mit der ich im Stillen gegen die Pandemie wüte, mein Gesicht längst so zerfurcht wie das des Kabarettisten, suche ich Schuldige.
Einige Gründe, die die Gereiztheit anfachen, sind lächerlich, andere nicht zu ändern, manche erscheinen mir rechtens. Da sind die Appelle, von welcher Bedeutung Schulen und Kindergärten doch sind und zugleich die Bockwurstigkeit beim Homeoffice, dieses sanfte Tätscheln der Chefs und Büroleiter, die larmoyanten Verweise auf Datenschutz, Versicherung und arbeitsrechtliche Bedenken. Die FFP2-Masken und die Bockwurstigkeit, diese Notwendigkeit kostenfrei für jene bereitzustellen, die um jeden Cent kämpfen. Die Bockwurstigkeit bei der Digitalisierung von Schulen und Ämtern, vielzuoft ein Beharren auf dem Vorpandemieprotokoll, das Festhalten an uralten Kommunikationsmustern, das Missachten von wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Unsicher bin ich, ob ich gleichgültig oder gereizt auf die Ahnung von Christian Drosten reagieren sollte. Er spricht von einem gesellschaftlichen Druck, der eintreten könnte, wenn die Risikogruppen geimpft sein werden, ein Druck, die Maßnahmen zu beenden, was viele Infektionen zur Folge haben werde, ein Sommer der Durchseuchung.
Die Reaktionen sind unterschiedlich, zwei Lager. Drosten ist eine der Figuren, an der sich der Umgang mit der Pandemie beispielhaft zeigt, besser entzündet, er ist Symbol dieser Zeit. In einem früheren Gespräch einmal wünschte meine Gegenüber, dass Christian Drosten hoffentlich bald an die Wand gestellt werde … ein kurzes Zögern … juristisch, meine sie, vor Gericht und dann abgestraft werde für seine Falschaussagen, der gehört hinter Gitter, für das, was er uns angetan hat. Die Ohnmacht, die Wut projiziert sich nicht auf das Virus, sondern auf ihn, die Gereiztheit längst Hass. Dann lieber gleichgültig sein.
Ansonsten: Laut Untersuchungen in England gibt es Hinweise, dass B117 nicht nur ansteckender, sondern auch tödlicher als frühere Virusvarianten ist. In Großbritannien melden 6000 Bars und Restaurant Insolvenz an. Astrazeneca kann weniger Impfdosen als angekündigt ausliefern. Die Bundespflegekammer berichtet von einer hohen Impfbereitschaft unter den Pflegerinnen. Bill Gates wird geimpft. Zum dritten Mal wird der James-Bond-Film »Keine Zeit zu sterben« wegen Corona verschoben, diesmal auf Jahresende. Aus dem auch wegen Corona geschlossenen Metropol-Kino in Stuttgart soll eine Boulderhalle werden. Ausbüxen im Lockdown.
22. Januar | Motivation
Ein Lied für diesen Tag, »In The Aeroplane Over The Sea«, denn ein Sommertag ist es fast. Dazu immer deutlicher in den Zahlen, dass sie tatsächlich sinken. Eine Art Aufatmen, draußen, drinnen, in den Graphen.
Dabei hat die nächste Stufe von der eben erst beschlossenen Lockdown-Verlängerung eben erst begonnen, drei Wochen und eine halbe verbleiben in diesem fortgesetzten Stillstand so. Und jetzt, da gewiss ist, dass Covid Zero / No Covid kein Thema für Deutschland sein wird, lese ich einen Text über No Covid.
Darin ist von Motivation die Rede, davon, wie die Bevölkerung nicht auf ein Datum wartet, an dem entschieden wird, sondern wie die Menschen belohnt werden für ihr Engagement, wie sie angespornt werden, das Sinken der Zahlen in ihrer Region (bzw. in der Strategie: ihrer Zone) zu forcieren und zu bejubeln und dafür etwas zurückerhalten, ein Satz wie »Die vorgeschlagene Strategie bezieht die Menschen und ihre Fähigkeit mit ein, für sich selbst zu sorgen und sich im Team für ein gemeinsames Ziel zu verbünden.«
Nach dem Lesen frage ich mich, ob ich motiviert bin. Ob ich jemals motiviert war. Privat ja, natürlich, motiviert, irgendwie durchzukommen, motiviert, die Krankheit zu vermeiden, motiviert, den Umständen das größtmöglichste Glück abzutrotzen, motiviert, jeden Tag zu schreiben, die üblichen Motivationen. Aber darüber hinaus motiviert? Gab es jemals eine Motivation, die Zahlen für alle zu senken? Habe ich mich jemals als Teil eines Teams gesehen, habe ich jemals etwas getan, weil ich eine »Belohnung« erwartet habe?
Als Motivationsprozess habe ich die Pandemie nie empfunden, auch nie so empfunden, als ob ich motiviert werde. Ich habe hingenommen, erwartet, über mich ergehen lassen, geduldet, überdauert, ausgeharrt, durchgehalten, aus Vernunft, aus Sorge. Mich eingerichtet in diesem Warten, versucht, an den Vorabenden der Lockdowngipfel zu verstehen und abzuschätzen, später mitgetragen und kritisiert. Motiviert war ich nie außer: Das muss so gemacht werden, damit es später vorbei sein wird.
Heute, an diesem Sommertag im Januar, die Zeile »how strange it is to be anything at all« im Ohr, ein Donnerstag, an dem Sonnenstrahlen auf den Graphen tanzen, merke ich, dass ich manchmal doch mehr brauche als Abwarten. Einen Aufbruch, einen Moment, in dem vieles gut ist und es den Anschein hat, dass es besser werden könnte. Ich weiß nicht, ob das noch Motivation ist oder schon Zuversicht. Aber die Vorstellung, dass es ernsthaft ein Ziel jenseits von immer-so-weiter-gerade-genug-tun-bis-alle-geimpft-sind, ein Ziel jenseits von die-50-pro-Hunderttausend-müssen-wir-halten, ein Ziel jenseits von dem-Virus-werden-wir-immer-einen-Schritt-hinterher-sein, lockt mich hinaus und hinauf.
Ansonsten: Damit sich Aerosole beim Reden nicht verteilen, fordert der Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen die Passagiere des öffentlichen Nahverkehrs zum Schweigen während ihrer Fahrten auf. Trotz Lockdown steigen die Infektionszahlen in Großbritannien weiter. In Afrika ist die Corona-Todesrate höher als die weltweite Rate. Für Sachsen wird eine Höchstzahl an Todesfällen für Dezember gemeldet, fast doppelt so viele wie im Dezember 2019.
Um Klagen gegen Lärm durch die wegen Corona aufs Land gezogenen Städter zu unterbinden, erklärt die französische Regierung Landgeräusche wie Blöcken oder Grillenzirpen zum Sinnes- und Kulturerbe. Der neue amerikanische Präsident unterschreibt mehrere Erlasse zur Bekämpfung der Pandemie, darunter eine Maskenpflicht und die Rückkehr zur WHO. Weil Frankreich Verträge auf Impfdosen und nicht Impfstoff-Flaschen abgeschlossen hat und pro Flasche 6 statt 5 Dosen geholt werden können, werden die Flaschenlieferungen entsprechend gekürzt. In Tirol werden Impfstoffe an Privatkliniken ohne Covid-Patienten verteilt, vorrangig auf Skiunfälle spezialisierte Kliniken. Mehr als 50000 Coronatote in Deutschland.
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