5. März | die Tabelle
Die Ministerpräsidentinnenkonferenz hält eine Tabelle hoch. Die Tabelle ist farbig gestaltet, sie enthält viele Spalten und Zeilen, in denen vermerkt ist, wann was unter welchen Bedingungen geöffnet werden darf.
Die Tabelle ist voller Details. Sie versucht, viele Belange einzubeziehen. Die Tabelle ist ein Kompromiss. Aus manchen Kompromissen gehen die Beteiligten zufrieden heraus; niemand hat alles bekommen, aber alle etwas Entscheidendes. Diese Tabelle kann kein Kompromiss sein, weil die Seite »Schutz vor B117« nicht am Tisch saß. Diese Tabelle ist auch eine Erklärung, eine Bankrotterklärung, eine Erklärung dafür, dass Worte wie Staatsversagen, Enttäuschung, Desaster jetzt meilenweit Wortkonstruktionen wie »atmende Öffnungsmatrix« schlagen.
Die Tabelle ist eine Botschaft. Sie sagt: Unsere Strategie ist Hoffnung. Die Hoffnung, bis zur durch Impfung erreichten Herdenimmunität durchzukommen. Und im Grunde wäre das auch verständlich, wenn die Dinge, die es dafür braucht, so laufen würden, wie es notwendig wäre: die Organisation des Verimpfens, die Bereitstellung der Schnelltests, die Konzepte für die sensiblen Orte. Doch bei allem funktionieren wesentliche Bestandteile nicht, wie sie sollten, funktionieren bisher in einer Weise nicht, welche die Strategie der Tabelle nicht aufgehen lassen kann.
Die Gründe sind viele, vieles läuft darauf hinaus, dass es nicht möglich ist, in einer Ausnahmesituation jahrzehntelang geübte Wege abzukürzen, dass jahrzehntelange Versäumnisse jetzt die notwendigen Wege behindern. Es ist keine menschenfeindliche Boshaftigkeit wie bei der brasilianischen Regierung. Es ist eine Mischung aus Überforderung, Inkompetenz, Systemhaftigkeit, Resignation, Hilflosigkeit, Getriebenheit, es sind Entscheidungen, die ratlos machen; Benennung von Verantwortlichen, die offensichtlich ungeeignet sind, ein Fehlen von Strategien, ein Fahren auf Sicht, ein Mangel an Kommunikation, ratlos, weil sie so offensichtlich falsch, ungeschickt, schädlich und gedankenlos sind.
Und das war etwas, was die wählende Mehrheit bisher – bei allen Kritikpunkten – immer unterstellt hat: »Die« kriegen was auf die Reihe. Der Eindruck, die Zahlen, die Tabelle zeigen: Sie kriegen es nicht. Und die Ahnung, dass sich im Spätsommer nach Hunderttausend Toten trotzdem jemand hinstellen und sagen wird: Eigentlich sind wir ganz gut durchgekommen. Ganz gut sind »wir« durch die erste Welle gekommen, auch durch den Sommer. Durch den Herbst schon mal nicht und den Winter auch nicht. Jetzt ist Frühling und ich frage mich, ab welchen Punkt »wir« begonnen haben, Tabellen zu schreiben. Frage mich, wohin die Enttäuschung in den Wahlen fließen wird, wie diese Enttäuschung den Blick auf »uns« auf lange Sicht ändert, was diese Enttäuschung ändert.
Die Ministerpräsidentinnenkonferenz hält die Tabelle nicht hoch. Sie klammert sich daran fest.
Ansonsten: Etwa die Hälfte aller Neuinfektionen ist B117. Zwei Drittel aller Gesundheitsämter sind noch nicht an eine Software angeschlossen, die das Nachverfolgen von Infizierten erleichtern soll. Mehrere Handelsverbände zeigen sich maßlos enttäuscht wegen der nicht ausreichenden Lockerungen. Mehrere Unternehmen erklären sich bereit, Impfungen durch die hauseigenen Betriebsärztinnen vornehmen zu lassen. Eine Studie kommt zu dem Schluss, dass Berufe, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten, ein höheres Infektionsrisiko aufweisen. Die WHO lehnt die von der EU geplanten Impfpässe ab, weil die Pandemie Anfang 2020 vorbei sein wird. Tabu.
3. März | Impfstau Impfdrängler Impfreihenfolge Impfverordnung Impfstart Impfbereitschaft
Viel zu viele Worte in der Überschrift. Sie zeigen an, dass es viel zu sagen gibt. Schon mehrmals habe ich über die Impfdrängler geschrieben, meist in einem moralischen Kontext. Ich verteidige diese Einträge. Wenn Impfstoff knapp ist, ist das vorsätzliche Erlangen außer der Reihe unredlich und schäbig.
Mittlerweile ist Impfstoff nicht mehr knapp. Fast zwei Millionen Dosen sind ungenutzt, in den nächsten Wochen werden Millionen dazukommen. Heute erscheint es unredlich, einerseits fürs Drängeln zu bestrafen, andererseits den Impfstoff nicht zu gebrauchen. Jede Geimpfte ist ein Damm.
Die Frage des Impfens ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Es ist gerecht, wenn zuerst jene geimpft werden, die am stärksten betroffen sein könnten. Es ist nicht gerecht, wenn jene, die über Autorität verfügen, sich Impfstoff organisieren, allein deshalb, weil sie es können.
Wenn Impfstoffe ungebraucht sind, dann sollten sie schnell in Gebrauch kommen. Es ist seltsam, einen solchen Satz in der Pandemie, am Beginn einer dritten Welle zu schreiben. Unter anderen Umständen würde ich schreiben: Das Ungebrauchte sollte so schnell wie möglich den nächsten Prioritätengruppen zugänglich gemacht werden. Oder: Ein Zufallsgenerator sollte über das Ungebrauchte entscheiden, einer, der nicht nur die privaten Telefonnummern im Handy des Landrats abtelefoniert.
Nur was, wenn das Organisieren nicht so funktioniert, wie es sollte. Wenn die Hürden – fehlende Informationen, fehlende Digitalisierung, Bürokratie, Datenschutzbedenken – lieber den Impfstoff im Lager belassen, als nach draußen geben? Wie sollte ich glauben können, dass ein anderes Organisieren den Stau beseitigt? Was, wenn das Freigeben des Impfstoffes für alle die Lager am schnellsten leerräumt? Wäre das eine Kapitulation vor der Gerechtigkeit?
Ansonsten: Fünf Prozent der Deutschen haben zwei Monate nach Beginn der Impfungen mindestens eine Dosis erhalten. Joe Biden erklärt, dass bis Ende Mai Impfstoff für alle Amerikanerinnen zur Verfügung stehen soll. Die Covax-Initiative liefert weitere Impfstoffe an arme Länder, die bisher keine Impfstoffe erhalten hatten, aus. An einem niederländischen Corona-Testzentrum explodiert ein Sprengkörper. In Tel Aviv startet eine Konzertreihe für Corona-Geimpfte, Teilnehmerinnenzahl: 500. Texas hebt die Maskenpflicht auf. Mehrere deutsche Bundesländer helfen Tschechien mit Impfstoffen aus. Aus Angst vor Nebenwirkungen oder weil es eine biologische Waffe sein könnte, wollen sich 62 Prozent der Russinnen nicht mit Sputnik V impfen lassen.