Trypophobia. Das Unbehagen beim Anblick von Insektenhotels.

Am Strand von St. Pete finde ich eine Muschel, deren Gehäuse mit vielen kleinen Muscheln besetzt ist. Wie leere Augen starren sie zurück. Ein Schaudern überkommt mich, wenn ich eine Metapher verwenden wollte, dann die einer Gänsehaut, die sich innen kräuselt, mehr noch ein Gänsehauttier, das mit weichem Flaum langsam meinen Körper entlangwandert und sich in meinem Kopf einnistet und auf jede Nervenzelle eine Hand mit kaltem Pelz legt.

Keine Augen sind es, die mich anstarren, ich starre in Löcher, winzige Löcher. Ich google »Angst von kleinen Löchern« und finde das Wort Trypophobia: die Angst von unregelmäßigen Löchern in natürlichem Gewebe, asymmetrische Cluster, Einzelteilchen, die als ein Ganzes betrachtet werden könnten, Waben, Poren, Schwämme. Ursache des Ekels könnte die Urangst vor giftigen Tieren sein, die durch bunte Farbmuster warnen – der blaugeringelte Kraken – oder die Furcht vor Parasiten und Krankheiten, welche die Haut befallen und sie durchlöchern, pockenartige Objekte, vielleicht das Internet, wenn das Sprechen über die Bilder erst die unangenehmen Assoziationen weckt, eine Art Priming. Weiterlesen

Der Reiher

Im Herbst lief ich an der Ilm. Es hatte die Blätter von den Bäumen geregnet, auf dem Wasser trieb der ermattete Himmel. Dort war die Stelle, wo sich jenseits des Ufers einmal ein Straßenbahndepot befunden hatte. Auf einer vorgelagerten Stelle des schmalen Flusses erblickte ich einen Reiher; das Gefieder aschgrau, die Schopffedern schwarz, die langen Stelzenbeine, auf denen er unbeweglich stand. Ich erschauerte beim Anblick; Enten war ich hier gewöhnt, aber nicht Wasservögel in dieser Größe, nicht mit diesem Stolz, dieser majestätischen Schönheit.

Zwei Tage später spazierte ich erneut an dieser Stelle vorbei. Und wieder stand der Reiher am Wasser; der identische Ort, die identische Haltung, das identische Tier. Wind blies in sein Gefieder und verwirbelte grauweiß. Wieder bewegte er sich nicht, wieder stand er starr, ein Zaubervogel an der Ilm.

Es war der nächste Tag und es war das nächste Mal, dass ich den Reiher so sah. Diesmal misstraute ich dem Bild. Wie groß die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Tier an dieser Stelle zu jeder Zeit sein konnte und dem Wind, dem Wasser, meinem Blick ohne Regung standhielt?

Es konnte nicht sein. Weiterlesen

Momente, September 2017.

Weimar, 2. September 2017

Tagesprogramm für heute:
13:00 Uhr – Sigmar Gabriel auf dem Platz der Demokratie
18:00 Uhr – Scooter im Gauforum Atrium

Außerminister und Hardtranceband erscheinen deutlich später als angekündigt, sprechen volksnah, agieren professionell und spielen ihre größten Hits (älteste Partei Europas / Maria, I Like It Loud). Sigmar Gabriel erwähnt öfter seine Großmutter (»Omma«) und einen gewissen Konstantin, einen Jungen, den er zuvor traf und ein Eis versprach. Das Eis kauft er ihm später beim Dolomiti am Markt.

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Auf dem Goetheplatz neben dem Bratwurststand neben dem Bibelstand neben dem Stand der Initiative für den Erhalt des Ur-und Frühzeitlichen Museums neben dem AfD-Stand, keine fünfzig Meter entfernt eine vom Kunstfest in Auftrag gegebene Weltkarte des Kommunismus. Am AfD-Stand müssen alle entweder beige Sonnenhüte tragen oder die Aufschriften auf ihren T-Shirts unter Jacken verbergen.

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Auch beim Erotik-Fachgeschäft erwünscht: Buy Local. Weiterlesen

Carsten Schneiders Augen.

Vor meinem Fenster hängt Carsten Schneider. Präziser: Vor meinem Fenster hängt das Bildnis von Carsten Schneider. Es ist ein Plakat, sein Plakat für den Bundestagswahlkampf. Es hängt an einem Laternenpfahl vor dem Haus, in dem ich wohne.

Hundert Fotos, vielleicht weniger, vielleicht mehr, wird ein Fotograf von Carsten Schneiders Gesicht gemacht haben. Der Fotograf, Carsten Schneider, sein Team, haben diese Fotos betrachtet und für dieses entschieden. Mittig gesetzt sein Antlitz, keine formalen Extravaganzen, kein angeschnittener Kopf, einiges Weiß um ihn, auch Schatten,  frontal blickt er. Er trägt eine Brille, ähnlich wie ich, dahinter versinken die Augen, die Mundwinkel sind ansatzweise nach oben gezogen, der oberste Knopf des weißen Hemds ist geöffnet und hat dennoch nichts christianlindnerhaftes an sich.

Seit Tagen schon sieht mich Carsten Schneider an, jeden Morgen, wenn ich die Vorhänge beiseite ziehe und aus dem Fenster schaue, ist da Carsten Schneider. Sein Blick folgt mir in meinem Alltag. Er ist dabei, wenn ich esse, die Topfpflanzen gieße und staubsauge, er schaut zu mir, wenn ich mich an imaginären Kriegen in Westeros erfreue, ist dabei, wenn ich vom Atomscharmützel höre, das der amerikanische Präsident gern mit Nordkorea anfinge, wenn ich lese, dass der erfolgreichste Artikel auf Spiegel Online an diesem Atomkriegtag »Wer Bier trinkt, bricht seltener das Studium ab« ist, ist beim Dieselgipfel dabei, beim 177. Tag von Deniz Yücel im türkischen Gefängnis, bei den Neymarmillionen. Nachbarn haben Carsten Schneider vom Pfahl entfernt, doch er war schneller als Jesus, keinen Tag später hing er wieder, die Lippen seeheimkreisig aufeinandergepresst.

Einen Pfahl weiter hängt seine Konkurrentin. Ihr Bild ist unvorteilhaft, der Fotograf ist zu nah an ihr gewesen, nun drängt sie mit ihrem Kopf tief in meine Distanzzone hinein, zu tief, ich fühle mich bedrängt. Dabei richtet sie ihren Blick – anders als Carsten Schneider – nicht auf mich, sondern über mich hinweg. Möglicherweise wird eines Tages auch ein AfDler an den Pfählen hängen, wahrscheinlich ganz oben, die AfD hängt sich immer ganz oben auf, als ob Fipronileier sie dort nicht auch erreichen könnten.

Bis zum 24. September wird Carsten Schneider bei mir sein. In der Nacht wird er mir sozialdemokratische Träume zaubern, tagsüber mein bundesrepublikanisches Gewissen prüfen, mit seinen weisen Steueraugen zuversichtlich über meinen rechtschaffenden Bürgerkörper streicheln und mir versprechen, dass vieles so bleiben wird und manches gerechter werden könnte. Dann werden die Genossen kommen und Carsten Schneider mit sich nehmen, den Blick, das offene Hemd, die in Plakat gegossene Zuversicht.

Weimar, Kabul

Wir fahren mit N. zu einem Handballspiel. N. kommt aus Kabul. In Afghanistan hat er Politik studiert. Nach mehreren Mordanschlägen auf Kommilitonen gibt er das Studium auf. Danach arbeitet er fürs Fernsehen – auch für afghanische Ableger europäischer Sender –, trainiert einen Fußballverein, engagiert sich im Nachwuchsbereich. 2015 kommt er nach Deutschland, lebt jetzt in Weimar.

Es ist sein erstes Handballspiel. In der Halle macht er Selfies mit einer Nationalspielerin, Fotos und Videos, die er auf Facebook teilt, wo sie umgehend kommentiert werden.

N. hat Sprachkurse besucht. Ab und an fragt er nach Wendungen, bittet um Korrektur seiner Aussprache, seiner Wortwahl. Er hat Abitur, sucht eine Arbeit. Gefunden hat er bisher keine. Für einen lokalen Radiosender hat er Beiträge gemacht, war auf Workshops in Schulen dabei. Ansonsten – nichts.

Arbeiten will er, etwas tun. Für eine Arbeit, eine Ausbildung muss er tagsüber verfügbar sein. Tagsüber sind Kurse, Gänge zu den Ämtern. Auf die Ämter muss er oft, viele Stellen mit verschiedenen Zuständigkeitsbereichen.  Er muss selbst einen Weg finden, durch die Gespräche, das Amtsdeutsch, die Zuständigkeiten, die Nichtzuständigkeiten. Eine Streetworkerin unterstützt ihn dabei, beide sind nach Monaten ergebnisloser Suche ernüchtert und frustriert. Weiterlesen

Blut spucken im Supermarkt

supermarkt

Weimars schönster Supermarkt befindet sich im Kellergeschoss des  ehemaligen Gauforums. Kürzlich wurde umgestaltet. Ein Optimierer kam und setzte neuste Erkenntnisse über das Kaufverhalten der Deutschen praktisch um. Gern wäre ich dabei gewesen, als er sagte: Im Obst- und Gemüsebereich braucht es vulkangesteinsimulierende Bodenbeläge! Fleisch und Käse ans weit entfernte Supermarktende! In Gangmitte die sinnlichen Gewürze! Den nutzlosen Plastikschnickschnack in den Teil, durch die Kunden sowieso müssen!

Der Supermarkt ist nun optimiert. Aus versteckten Lautsprechern plätschern gefällige Radiomelodien, Leuchtstoffröhren dimmen Wohlgefühl auf die Netzhäute, die Räder der Wagen drehen sich widerstandslos und führen wie von selbst zu den benötigten Produkten. Mehr als zuvor ist der Supermarkt eine Fruchtblase, welche die Keime der feindlichen Welt vom Konsumenten fern hält.

Nur in einem Bereich nicht. Denn in jedem Paradies gibt es eine Stelle, an der die Grenze zur Hölle durchlässig ist. Weiterlesen

Mäher von Wiesen

Kürzlich habe ich eine Wiese gemäht. Dabei befremden mich gemähte Wiesen. Den Mähern von Wiesen unterstelle ich Biedermeierkeit, ein deutsch-englisches Getue, ein Spießertum, das überstehende Halme pingelig mit der Nagelschere stutzt und sich dann so befriedigt auf die gut geölte Hollywoodschaukel setzt, um von dort aus den schönen, aber nun leblosen Rasen begutachtet und sich im gleichen Atemzug über den nachlässigen Nachbarn erregt.

Nichtsdestotrotz mähte ich. Es war ein zum Tal hin abfallendes Stück Land, Bäume standen dort und Bänke, es handelte sich um kein durchgehendes und damit einfach zu mähendes Wiesenstück. Der Rasenmäher war ein mittelschweres, mittelaltes und damit mittelmodernes Gerät. Strom kam durch ein Kabel, man musste achtgeben, dass beim Mähen das Kabel nicht unter die Scheren kam.

Zu Beginn ging es darum, eine Strategie für ein möglich effizientes, also kurzzeitiges Mähen zu entwickeln. Da es beim Mähen nur eine Strategie geben kann, mähte ich Streifen nach dem Zickzackmodus. Schnell stellte sich ein beglückendes Gefühl ein – jeder gemähte Streifen Rasen strahlte hell und zuversichtlich im gleißenden Sonnenschein heißer Sommertage. Der ungemähte Teil des Rasen dagegen erschien fehlerhaft, unzivilisiert und deshalb minderwertig. Dank des Mähens gab es eine klare Grenze zwischen gut und schlecht. Weiterlesen

Hinter diesen leeren Augen brennt eine Mülltonne. Links.

But based on history we are due another period of destruction, and based on history all the indicators are that we are entering one.
History tells us what may happen next with Brexit & Trump

Der Frage, wie man es verhindert, dass eine signifikante Anzahl von Menschen sich nicht zugehörig fühlt und radikalen Religionspredigern lieber folgt, als Fußball zu spielen, ein Bier zum Feierabend zu trinken oder auf eine Party zu gehen. Sogar sosehr, dass manche diese Dinge zerstören wollen. Dann sprechen wir nicht mehr von 10.000 Soldaten, sondern von 10.000 Sozialarbeiter_innen.
Zwei Gedanken zu Nizza

Wilders ist am offensichtlichsten verhaltensgestört. Irgendwo hinter diesen leeren Augen brennt eine Mülltonne.
Im siebten Stock der Hölle

Wenn ein Schiff mit Migranten im Mittelmeer versinkt, dann finde ich das eine gute Nachricht.
Der Hass im Netz Weiterlesen

ich wir sie die anderen

Ich fahre in einem Zug. Den Gang gegenüber sitzt ein Paar. Sie sind vielleicht Mitte Zwanzig. Es gäbe viel, was ich an ihnen beschreiben könnte. Ich beschreibe: Sie hat ein Tuch um ihren Kopf geschlungen, es verhüllt Teile ihres Gesichts. Der Mann hält die Fahrkarte in den Händen. Als der Schaffner erscheint, spricht nur der Mann. Sie vermeidet jeden Blick.

Ich weiß nichts von ihnen. Jede Annahme ist falsch. Sie kommen nicht von hier. Ich denke: Was, wenn sie fünfundzwanzig Jahre in einem kleinen Dorf weit in den Bergen gelebt haben und mit den Vorstellungen, die die Menschen in dem Dorf haben, aufgewachsen sind? Wenn daher ihre Werte rühren, ihre Sicht auf die Welt. Und was, wenn sie jetzt hier sind und bleiben werden wollen müssen? Und wir und sie feststellen, dass es Gemeinsamkeiten gibt und Unterschiede?

Die, die ich sehe, sind die Anderen. Weiterlesen

Theater in Weimar.

dnt weimar - diskussion

Wir sitzen im Deutschen Nationaltheater Weimar. Das allein ist schon eine Sensation. Denn das DNT existiert, wie jemand später anmerken wird, seit den Kreuzzügen. Dann kam die Entdeckung Amerikas, dann Goethe, dann Friedrich Ebert, dann die Nazis, dann der Sozialismus, dann der Kapitalismus.

Heute kommen der Oberbürgermeister und der Intendant, der Kulturminister und die Staatssekretärin ins DNT. Sie sitzen auf der Bühne und sprechen vor vielen Weimarern über die Zukunft des Theaters. Oder anders: So gut wie alle sprechen über die Zukunft des Weimarer Theaters. Der Minister spricht über die Zukunft der Theater in Thüringen.

Auch in Zukunft wird es Geld geben. Für Theater. Aber weniger. Oder mehr. Auf jeden Fall anders. Dafür reist der Minister in Thüringens Theaterstädte und spricht in den Theatern über die Zukunft dieser Theater. Jede Theaterstadt wird zu Recht erklären, dass gerade dieses eine Theater unverzichtbar sei; Arbeitsplätze, Stadtidentität, Lebensmittelpunkt, über Jahre gewachsenes Kulturbiotop, Integrationsarbeit, Bildungsort. Für Weimar und die Weimarer, wird in Weimar gesagt, sei das Theater die Seele der Stadt.

Schnell werden zwei Dinge klar: Weiterlesen