Die jungen KADYAS. Jaffa / Weimar.

Der Kadyachor. Fünfundzwanzig Mädchen aus Israel und Deutschland kommen in Israel und Weimar zusammen, um in achtzehn Tagen zwölf Lieder der jiddischen Dichterin Kadya Molodowsky einzusingen. Die Texte sind in Jiddisch, eine Sprache, die sie nicht sprechen, zu Teilen aber verstehen können. Ihre Sprachen sind Arabisch, Hebräisch, Deutsch und Englisch. Proben stehen an, zwei Konzerte, ein Besuch in Jerusalem, Flüge in andere Länder, ein Leben in der Ferne. Eine Reise, in vielerlei Hinsicht.

Jaffa, Jafo. Die viele tausend Jahre alte, mehrheitlich arabische Hafenstadt, die in den 1950er Jahren mit Tel Aviv vereint wurde. Wer auf der Straße läuft, dem tropft Wasser von den Klimaanlagen in den Nacken. Auf der Sderot Yerushalayim alle drei Häuser ein Kiosk, darin gekühlte Getränke, Auberginen so groß wie Wassermelonen und Wassermelonen so groß wie zwei Wassermelonen. Das wahnsinnigste Fortbewegungsmittel sind die E-Bikes, die auf Straßen und zwischen Passanten wie in einem GTA Jaffa agieren, oft mit Beifahrer stehend auf dem Gepäckträger. Die wichtigste Information in Städten ist: Halten Autos an Zebrastreifen? Hier tun sie das.

The Arab-Jewish Community Center, hundert Meter vom Mittelmeer entfernt. Mädchen auf Segway minis füllen ihre Flaschen am Wasserspender nach. Scouts in roten und blauen Shirts gehen von hier aus auf Tagestour. Im ersten Stock probt der Kadyachor, lernt Texte und Melodien.

Sderot Yerushalayim. Im zwölften Stock wohnen wir, der Fahrstuhl hält in jeder zweiten Etage und ist mit einem Ventilator ausgestattet. Die Klimaanlage funktioniert in einem Zimmer allein, was ungünstig ist angesichts einer Hitzewelle, die tagsüber bis zu 36 Grad bringt. Von neun bis dreiundzwanzig Uhr sind wir üblicherweise unterwegs. Der Plan, währenddessen Durchzug durch geöffnete Fenster zu erzeugen, scheitert an den in die Zimmer fliegenden Tauben. Nachts kräht ein Hahn lauter als die Müllabfuhr, von der See kommt ein leichter Wind auf.

Chorproben. Jeden Morgen trifft sich der Chor im Arabisch-Jüdischem Begegnungscenter, um dort die Lieder einzustudieren. Die Arbeit an einem neuen Stück beginnt mit dem Singen der Melodie. Anschließend lesen drei jiddisch sprechende Schwestern – die jüngste ist neun Jahre – den Text Wort für Wort vor, der Chor folgt. Danach bringt er Text und Musik zusammen, die Stücke heißen »Barelekh«, »Der yam« oder »Shtern faln«. Der Kadyachor besteht aus dem »Voice of Peace« aus Jaffa und dem Schola Cantorum aus Weimar. Beide Chöre haben unterschiedliche Arbeitsweisen. Hier müssen sie eine gemeinsame finden.

Während der Proben kommen immer wieder Fragen jenseits der Musik auf. Bei einem Gespräch über die Teilung Deutschlands und die Mauer fällt das Wort schnell auf den Gazastreifen und die Sperranlagen, die israelischen, mehrheitlich arabischstämmigen Mädchen berichten von ihren Leben, erzählen ihre Geschichten, ihre Stimmen werden dann lauter und energisch, brechen manchmal weg, klingen überzeugend, fragend, verzweifelt, wütend, suchen Antworten. In den Pausen singen diese Stimmen gemeinsam mit den deutschen »Bohemian Rhapsody«, »Hallelujah«, »Fix You« und »Zaman El Salam«.

Der Hafen Jaffas, nahe der historischen Altstadt. Viel dieses Viertels wurde von den Briten zerstört, die so Kontrolle über die aufständischen Einheimischen erlangen wollten. Heute wird hier vornehmlich gegessen. Schiffe legen an, auf einem hat ein alternder Playboy ein Sofa platziert und lädt dort sitzend hübsche, junge Frauen an Bord. Von da aus die Promenade entlang. In der nahen Ferne die Skyline von Tel Aviv, die Hochhäuser, von denen noch die Rede sein wird. Die Brandung tobt, das Mittelmeer ist eine See, sie zieht die Unvorsichtigen mit Kraft zu sich.

Wellen also, darauf zeitweise alle paar Meter Surfende. Das Wasser hat die Wärme der letzten Tage gespeichert, viele Quallen spült es in den Sand, oft greifen Hände danach und werfen sie ähnlich einem Spiel zurück in die Gischt.

Wenn es dunkel wird, treten aus dem Himmel die Lichter der auf den Flughafen Ben Gurion hinabsinkenden Flieger, allesamt auf einer Linie reihen sie sich hintereinander ein, das Blinken wie ordentliche Leuchtkäfer. Auf den Rasenstreifen neben der Promenade Plastikstühle, Grille, der Geruch von Fleisch, E-Bikes umkreisen verliebte Schlendernde.

Später in der Nacht walzt ein Traktor den Sand entlang, trägt den Müll des Tages fort. Über einem Boot steigt ein Leuchtfeuer hoch, doch ist niemand beunruhigt, hier am Wasser.

Taiwan. Ein Konzert im Begegnungscenter, Schola Cantorum singt, die Voices of Peace ebenfalls, als Höhepunkt sind die Kaydas mit zwei in den letzten Tagen gelernten Stücken ans Konzertende gesetzt. Eine Wand des Raums ist mit Spiegeln versehen, was den Raum und die darin befindlichen Plastikstühle verdoppelt.

Dazu hat sich ein vierzigköpfiger Chor aus Taiwan angekündigt. Der Chor besteht aus Waisen und Kindern aus schwierigen Verhältnissen, das Singen soll ihnen ein besseres Leben verheißen. Getragen wird der Chor von einer Glaubensgemeinschaft, für die Israel das Gelobte Land ist und die es als ihre Aufgabe betrachten, Juden aus der Diaspora dahin zu bringen, um dadurch selbst Seelenfrieden zu erlangen. Nun reisen sie durch Israel und singen, heute sind sie in Jaffa.

Der Chor hat den Besuchern ein Geschenk mitgebracht: Die israelische Nationalhymne, gesungen von Taiwanesen. Die Chorleiterin bittet die Anwesenden, sich zu erheben. Stühlerücken, Gemurmel, Unruhe. Minuten verstreichen. Die Leiterin wird gebeten, auf das Singen der Hymne zu verzichten, hier sei der nicht passende Ort dafür. Die, die aufgestanden sind, nehmen wieder auf den Plastikstühlen Platz, erstaunt, verärgert, betroffen, erleichtert. Im Spiegel ein zerrissener Raum, in den nur zögerlich die kehligen Gesänge der Taiwanesen einsickern.

Es gibt keine Wahrheit. Zum Beispiel als der taiwanesische Chor am Tag nach dem Konzert zur Probe der Kadyas hinzukommt. Matten werden zum gemeinsamen Sitzen ausgelegt, die Chöre stellen einander zwei Stücke vor, ein arabisches über Frieden, ein taiwanisches über die Jasminblüte, ein gemeinsames Singen, Deutschland, Israel, Taiwan. Natürlich existieren Fakten: Beide Chöre sind an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Aber allein letzteres wirft schon Fragen auf: Denn drei Uhr in Jaffa ist niemals drei Uhr in Weimar.

Und dann die Geschichten: Etwa hundert Menschen sind jetzt hier. Das bedeutet: Zweihundert Augen schauen. All die Gedanken in jedem Moment, die einordnen, bewerten, verknüpfen. Wie kann es da einen Blick, eine Wahrheit geben?

Auch deshalb kann das, was wir tun, niemals den Anspruch auf Abbildung der Wirklichkeit erheben. Bestenfalls gelingt es einige dieser hundert Geschichten anzudeuten, durch Bewegungen, Körperhaltungen, offene Augen, Worte natürlich. Gerade bei den Fragen, die über Jaffa und dem Land kreisen, kann es keine eine Wahrheit geben, keine eine Seite.

Tel Aviv. Wir laufen los. Vom Meer aus zum Flohmarkt, wo zur White Night alle paar Meter eine Band spielt, über die Sderot Yerushalayim hin zur amerikanischen Kolonie. Siedler aus Maine brachten vor hundertfünfzig Jahren ihr eigenes Holz mit, um auf Sand und Sumpf zu bauen und zu missionieren, viele starben an Cholera.

Je weiter wir uns von Jaffa entfernen, desto uneindeutiger die Architektur. Dort romanische Säulen, hier Südstaatenfassaden, asiatische, europäische Versatzstücke, alles fließt ineinander, oftmals an einem Gebäude. Eines ist jedoch konstant präsent: das Bauhaus. Tel Aviv ist die Stadt mit der
weltgrößten Zahl von Gebäuden im Bauhausstil. Nach 1933 flüchteten die Bauhäusler aus Deutschland und die neue Stadt brauchte einfachen, funktionalen Wohnraum.

Das ist viele Jahrzehnte her. Heute sind viele der Bauhausbauten marode. Wer in die Höhe bauen will, muss dafür einige dieser alten Gebäude renovieren; zwei zerstört, vier gerettet. Das ist der Deal, der Preis für die Skyline ist der Erhalt des Alten. Auch deshalb schlagen einige Hochhäuser seltsame Haken, beugen sich über die alten Gemäuer, umarmen sie, erdrücken sie fast.

Immer weiter laufen wir. Erfahren vom Stolz darauf, hier zuerst eine Schule und dann erst eine Synagoge gebaut zu haben. Die Straße, die den Zugang ans Meer ermöglichen soll und deshalb eine absurde Kurve schlägt. Ein ausgebranntes Kino. Auch hier in vielen Ecken die Straßenkatzen, nur erscheinen sie weniger ausgemergelt als in Jaffa. Yair sagt, dass Tel Aviv ihn an Amsterdam erinnere, die Menschen offen, interessiert am Anderen. In Jerusalem hingegen koche jeder ein Süppchen für sich, viele Gruppen mit eigenen Plätzen, streng darauf bedacht, sich nicht zu mischen.

Am Abend gehen wir in ein Restaurant gegenüber der ersten Synagoge. Es gehört einem Fernsehkoch, er ist berühmt, die Wartezeit beträgt dreißig Minuten. Die Philosophie des Kochs besagt, dass jedes einzelne Nahrungsmittel wertzuschätzen sei. Es gibt also EINE Aubergine, EINE Süßkartoffel, Jerusalembohnen ohne alles. Frank Ocean läuft auf Vinyl, Sitzplätze sind rar, Gin ist teuer, wir sind unter den schönen Menschen der Stadt.

Jerusalem. Der Kadyachor betritt die Altstadt durch das Damaskustor. Dahinter passiert so viel gleichzeitig, unmöglich ist es, mehr als Fetzen wahrzunehmen: Da ein Stand mit Minnie-Maus-Handyhüllen, dort einer mit Kopfbedeckungen, Dutzende mit frischgepressten Säften, Gewürze natürlich, T-Shirtstände, Motive sind Frozen, Spiderman, Arafat, oft das Gebiet Israels mit der Fahne Palästinas bedeckt. Durch die engen, abschüssigen Gassen schieben sich Touristengruppen, Flaneure, Einkäufer, Motorräder, Kinder auf Fahrrädern hupen sich selbstbewusst Wege frei. Wer stehenbleibt, sollte es aus Überzeugung tun.

Je näher wir einer drei heiligen Stätten kommen, desto größer die Dichte von Reliquientrödel. Wir wollen zur al-Aqsa-Moschee, unser Guide hat einen Zutritt organisiert, in unserer Gruppe sind Muslime, Juden, Katholiken, Protestanten, Atheisten. Die Hände der israelischen Mädchen greifen wie selbstverständlich nach Kleidungsstücken, die das Haar bedecken, für die deutschen Mädchen sind es ungewohnte Bewegungen. Als die weiblichen Haare bedeckt sind und die männlichen nicht und wir so vor die Soldaten treten, die die Tür, das Gate, bewachen, werden wir abgewiesen, was vielleicht an uns, dem so offensichtlichen Filmteam liegt, vielleicht an anderen Gründen, ganz klar wird das nicht.

Auch der Zugang zur Klagemauer wird uns verwehrt, die Sicherheitskontrolle dort ähnelt der am Flughafen Ben Gurion. In die Grabeskirche gelangen wir, Gruppen tragen Holzkreuze durch Weihrauchdampf. Vor dem Golgotafelsen werfen sich Menschen auf den Boden, küssen dem Stein, mehrmals, machen Selfies davor, zünden Kerzen an, die ein Verantwortlicher im Gewand alle paar Minuten ausbläst und abräumt.

Der zweite Versuch an der Klagemauer klappt, es hilft, dass eine der arabischen Kadyas ihre traditionelle Kopfbedeckung abgelegt hat. Vor der Mauer ist der größere Teil den Männern vorbehalten, die Frauen werden von ihnen separiert. Eine der deutschen Kadyas weiß nichts von dieser Trennung. Also geht sie auf die Männerseite, niemand bemerkt sie dabei. Dort steht sie, auf dem Platz ohne Schatten.

Die Zeit in Jaffa geht zu Ende. Vor der Flugreise steht für die israelischen Kadyas ein Securitycheck an. Ohne diesen dürfen sie das Land nicht verlassen. Zwei Stunden schauen sie von staatlicher Seite produzierte Videos an, die über Geschichte und Kultur Israels, auch über Politik informieren. Danach folgt ein Test, in dem diese Informationen abgefragt werden. Erst bei bei erfolgreicher Beantwortung erhalten sie ein Zertifikat, welches zur Reise berechtigt.

Belustigt, gelangweilt, an vielen Stellen empört, betrachten sie die Videos. Sie gleichen ihre Lebenswirklichkeit mit dem offiziellen Blick ab. Die Differenz ist offenbar gewaltig. »Fake News«, rufen sie, manchmal »Bullshit«. Einmal wird ein Bild gezeigt, auf dem ein Junge einen Stein auf einen Panzer wirft. Wer das Opfer sei und wer der Täter, fragt der Test. Die für den Test korrekte Antwort lautet: Das Opfer ist der Panzer.

Anschließend fragen wir die deutschen Mädchen, ob sie ahnen können, aus welchen Gründen die israelischen Mädchen solche Tests machen müssen. Sie vermuten, erzählen dann, wie ihre Freunde vor der Abreise besorgt fragten, ob sie nicht Angst hätten, nach Israel zu reisen, dieses unsichere Land. »Aber Deutschland ist auch kein sicheres Land mehr, nachdem, was in Berlin passiert ist«, sagt eines der Mädchen. Sie ist neun. Ich frage mich, welche Strukturen, welche Systeme und Absichten eine Wirklichkeit schaffen, in der ein Panzer das Opfer ist und neunjährige Mädchen von Terroranschlägen wissen müssen, gleich, ob in Deutschland, Israel oder sonstwo.

Tags darauf am Flughafen Ben Gurion. An der Decke des Flughafengebäudes hängen bunte Heliumballons. Die Kadyas sind aufgekratzt: Shoppen im Duty Free, Selfies vor der Gangway, an Bord viel Lachen. Das Flugzeug hebt ab, Jaffa verschwindet unter den Wolken. Deutschland, Weimar ist nun das Ziel.

Zurück in Weimar. Beziehungsweise: Zum ersten Mal in Weimar. Vier Uhr am Morgen auf dem Goetheplatz ankommen. Wenige Stunden später schon die nächste Probe. Die wichtigste Frage der israelischen Kadyas: Wo ist die Klimaanlage? In den Räumen der Musikschule ist es heißer als es das in Israel war. Doch hier ist A/C das offene Fenster. Oder gleich draußen.

Viel ist zu tun. In sechs Tagen findet das Abschlusskonzert statt. Von den geplanten zwölf Liedern müssen einige erst gelernt, die anderen geübt, eine Choreographie einstudiert werden, eine Band soll den Chor begleiten. Differenzen gibt es, unterschiedliche Auffassungen, wie intensiv eine Probe ablaufen sollte.

Am zweiten Tag in Weimar ist die Luft raus, alle sind an einem toten Punkt, erschöpft, Kraft fehlt. Dazu kommt, dass die israelischen Mädchen nicht bei Gastfamilien sein können, sondern in einem Dorf außerhalb von Weimar untergebracht sind. Uns scheint, dass sich die Bande lösen, dass die Beziehungen nicht mehr so eng wie in Jaffa sind.

Stadtgang durch Erfurt. Wir besichtigen die Mikwe, das alte jüdisches Tauchbad unterhalb der Krämerbrücke, die Synagoge mit dem Schatz und den hebräischen Handschriften, erfahren, dass das Kaufhaus am Anger 1 der jüdischen Familie Tietz gehörte, Hermann Tietz, dem Namensgeber von Hertie, 1933 von den Nationalsozialisten enteignet.

Auf dem Petersberg wandern wir durch die Katakomben, ein Gang im Dunkeln. Unser Begleiter berichtet, wie Angreifer früher Tunnel gruben, um so die Zitadelle erobern zu können, wie die Verteidiger ihrerseits Tunnel aushoben, um die der Feinde zum Einsturz zu bringen. Die israelischen Kadyas hören aufmerksam zu, sagen: »Tunnel, genau wie in Gaza.«

Als wir später einen arabischen Friseursalon passieren, will der Besitzer wissen, woher die Mädchen stammen, »Aus Palästina«, erklären einige. Eines der Mädchen wird wütend. »Wir kommen aus Israel«, ruft sie wütend, »warum verleugnet ihr das Land?« Ein Streit bricht aus. Vor der Abfahrt wurden ihnen geraten, im Ausland nicht über Politik zu sprechen. Zu laut die Stimmen, wenn über Israel gesprochen wird, zu schnell die Missverständnisse. Dennoch reden sie darüber, natürlich.

Auch als sie von den deutschen Mädchen in deren Zuhause eingeladen werden. Bei Kartoffelsalat, Kartoffelauflauf, Körnerbrot kommt das Gespräch immer auf Politik. Auf die Armee, in die eines der Mädchen bald gehen muss. Auf die Familiengeschichten, die Religionen, die Beziehungen zu Deutschland. Die Tonlage der erwachsenen Deutschen wird tief und ernst, wenn sie nach Israel fragen, dem jüdischen Israel.

Doch die Kadyas wollen mehr sein, nicht sinnbildlich stehen für die Juden, die Araber, die Muslime, die Deutschen. Jedenfalls nicht auf Knopfdruck, schon gar nicht für diese Texte, in denen sie bestimmte Funktionen erfüllen sollen. Auch wollen sie shoppen gehen. Auch wollen sie Lieder von Justin Timberlake singen, über die Beatles sprechen, von La La Land schwärmen, erstaunt gemeinsam feststellen, dass sie einmal Schauspielerin sein wollen, auf eine Sport- und Musikhochschule wollen sie gehen, sie wollen das Land verlassen, sie wollen nach Israel ziehen, reisen wollen sie, an der Bushaltestelle tanzen, Sushi essen, Pfannkuchenbacken auf Instagram streamen wollen sie, lernen, die Oud zu spielen, Architektin werden.

Buslinie 6 bringt uns nach Buchenwald. Unser Begleiter wurde in Israel Opfer eines Anschlags, ein Palästinenser zündete eine Bombe, das Auge unseres Begleiters wurde zerstört. Nun geleitet er uns durch das Lagertor, wir legen unsere Hände auf die Metallplatte, welche die Temperatur des menschlichen Körpers hat, gehen weiter zum Modellnachbau des KZ Weimars, der von einem ehemaligen Häftling geschaffen wurde. Einigen der arabischen Mädchen ist anfangs nicht bewusst, was auf dem Ettersberg geschehen ist. »Wo sind die Häuser hin, was war hier?«, fragen sie, nach vielen Minuten, »War hier die Shoa?«

Bei dem bekannten Foto, das direkt nach der Befreiung aufgenommen wurde, bleiben wir lange Zeit stehen. Unser Begleiteter berichtet, dass der zwölfjährige Junge auf der Holzpritsche aus Haifa stammt. Die Mädchen wollen wissen, ob er noch lebt. Heute erzählt er an Schulen seine Geschichte.

Im Krematorium die gekachelten Räume, die Öfen, auf die Blumen gelegt sind, ein großformatiges Foto von den Leichenbergen. Danach sitzen wir, erschöpft, leer. Yair schlägt vor, ein Lied zu singen. Die arabischen Mädchen setzen leise ein. Zuerst misstraue ich diesem Moment. Das Bild ist zu klar, zu sehr Metapher – arabische Mädchen verschiedener Konfessionen singen vor Juden und Deutschen ein Lied am Krematorium in Buchenwald – vielleicht kitschig, sicher unwirklich. Dann sehe ich, wie sie beisammen stehen, trösten, die halten, die gehalten werden müssen.

Abschlusskonzert. Das Ende der Reise. Bei der Generalprobe ist noch vieles unklar: Sind die Solostimmen stark genug, um gegen die furiose Band zu bestehen? Welche Tanzschritte folgen bei welchem Lied? Welches Kostüm wird beim Bauchtanz getragen? Wie viele Zugaben werden gespielt? Wie stellt sich der Chor auf, so dass alle Kadyas gut zu sehen sind?

Die Generalprobe klappt irgendwie. Danach ist Freizeit, drei Stunden durchatmen, zur Ruhe kommen, umziehen. Kurz nach acht geht das Licht an. Die Kadyas singen: Lieder von der Entstehung das Ozeans, der Suche nach dem Mond, einem Birnenbaum. Während ich höre, überkommt mich unbändige Freude. Ich kenne die Geschichten hinter den Melodien, die Schwierigkeiten und Hürden beim Erlernen, die Freude dabei und auch Enttäuschungen, einige der Wege, die die Kadyas eingeschlagen haben, um hier und jetzt auf der Bühne zu stehen. Ohne etwas dazu beigetragen zu haben, bin ich unendlich stolz auf den Chor; auf das, was sie erreicht haben, wie leicht und wunderbar und hell und klar sie klingen, mühelos, erhaben, strahlend. Auf den Gesichtern liegt die Sonne von Jaffa, in den Stimmen die vielen Gespräche, die gelernten Worte, die Begegnungen, die neuen Gedanken.

In der Nacht Umarmungen, ausgelassene Freude, auch Tränen. Das Konzert ist ein Abschied. Diese Gruppe von Menschen wird niemals wieder in genau dieser Zusammensetzung zusammentreffen. Das ist allen bewusst. Doch das Konzert ist aufgenommen, die drei Wochen davor ebenfalls, zumindest ein winziger Ausschnitt davon. Vielleicht wird es gelingen, etwas von diesen Tagen zu bewahren.


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