Mische

I. Sachsenscham

Mitte der 1990er Jahre begriff ich, dass ich mich für meine Heimat schämen sollte. Es muss Harald Schmidt gewesen sein, er imitierte in seinem Stand-Up das, was er als sächsischen Dialekt vermutete und die Leute lachten, die Pointe hatte nichts mit Sachsen zu tun, es ging irgendwie um das, was Schmidt später als Unterschicht bezeichnen sollte, ein bisschen Assi, ein bisschen zurückgeblieben, auf ordinäre Weise unterbelichtet, das war die Pointe, deshalb lachten die Leute und um dieses Lachen zu erzeugen, brauchte es nur das Sprechen meiner Heimat.

Ich hatte mir zuvor nie wirklich Gedanken darüber gemacht. Familie im Erzgebirge, Familie im Vogtland, Freunde bei Leipzig und Dresden, ich lebte in Westsachsen – das eine Sächsisch gab es nicht, und ich stellte fest, dass es das doch gab, in der Vorstellung anderer gab es das und dieses Sächsisch hatte einen Ruf, übel war der, und damit war nicht das »übelst« gemeint, das meine Freunde immer dem voranstellten, was sie besonders gut fanden.  

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Florida. Silver Alert.

Silver Alert

Wenn wir auf dem Highway fahren, wundern wir uns über die Displays über den Straßen. Silver Alert steht dort und dazu wird ein Autokennzeichen gezeigt. Dann sind demenzkranke Rentner mit dem Auto unterwegs ist. Die besorgten Kinder, die besorgten Pflegekräfte haben die Behörden alarmiert. Dies geschieht in Florida so häufig, dass eine entsprechende Warnung eingeführt wurde, der Silver Alert.

Lachsfarben

Am wenigsten missfällt mir hier die Künstlichkeit. Sie scheint so natürlich, durchdringt jeden Stein, jedes Plastikteil, jeden aus Styropor gehauenen Piratenkopf auf einem künstlichen Schiff an einem künstlichen Pier in einer künstlichen Bay. Das Künstliche stört nicht, weil ich es erwartet habe, selbstverständlich dieser Kultur zurechne. Wäre es echt, wäre ich enttäuscht, zumindest an den erschlossenen Orten. Von Venedig erwarte ich keine Schönheit, sondern überteuerte Kaffeegetränke für Touristen, von Bad Ischl erwarte ich keine echte Sisi, sondern das aufgehübschte, von aller Vergangenheit gelöste Abbild. Die Frage ist, wie melancholisch macht mich das Künstliche? Die lachsfarbenen Fassaden der Hotels, der Appartements, der Wohnanlagen?

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Die jungen KADYAS. Jaffa / Weimar.

Der Kadyachor. Fünfundzwanzig Mädchen aus Israel und Deutschland kommen in Israel und Weimar zusammen, um in achtzehn Tagen zwölf Lieder der jiddischen Dichterin Kadya Molodowsky einzusingen. Die Texte sind in Jiddisch, eine Sprache, die sie nicht sprechen, zu Teilen aber verstehen können. Ihre Sprachen sind Arabisch, Hebräisch, Deutsch und Englisch. Proben stehen an, zwei Konzerte, ein Besuch in Jerusalem, Flüge in andere Länder, ein Leben in der Ferne. Eine Reise, in vielerlei Hinsicht.

Jaffa, Jafo. Die viele tausend Jahre alte, mehrheitlich arabische Hafenstadt, die in den 1950er Jahren mit Tel Aviv vereint wurde. Wer auf der Straße läuft, dem tropft Wasser von den Klimaanlagen in den Nacken. Auf der Sderot Yerushalayim alle drei Häuser ein Kiosk, darin gekühlte Getränke, Auberginen so groß wie Wassermelonen und Wassermelonen so groß wie zwei Wassermelonen. Das wahnsinnigste Fortbewegungsmittel sind die E-Bikes, die auf Straßen und zwischen Passanten wie in einem GTA Jaffa agieren, oft mit Beifahrer stehend auf dem Gepäckträger. Die wichtigste Information in Städten ist: Halten Autos an Zebrastreifen? Hier tun sie das.

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Lesereise (17). Temeswar. 3 Tage Rumänien

Temeswar, Deutsche Kulturtage, 07. Juni 2016rumänien-40
Die Frage ist doch: Warum reisen? Um an fremden Orten zu sein? Warum denn? Um sagen zu können: Ich bin hier gewesen. Und eine Stecknadel sticht in die Weltkarte und markiert eine Stadt, ein Land, ein Erdteil? Und ein Foto ist gemacht und ein Blogeintrag geschrieben?

Oder geht es darum, etwas kennenzulernen? Aber was heißt kennenlernen? Informationen aufnehmen? Geschichten erfahren? In Restaurants Unbekanntes essen? Verstehen? Wie funktioniert denn dieses Verstehen? Bedeutet verstehen nicht sich hineinzuversetzen und glückt hineinversetzen nicht allein durch leben? Ist leben Alltag? Wie lange müsste ich an einem Ort Alltag erfahren, um sagen zu können: Ich verstehe?Jedenfalls reise ich. Für drei Tage nach Temeswar. Temeswar liegt im Westen Rumäniens, nicht weit von der ungarischen und serbischen Grenze entfernt, die drittgrößte Stadt des Landes. Eingeladen bin ich vom Deutschen Kulturzentrum für eine Lesung. Eine Lesung dauert eine Stunde, die Reise zwei Tage. Einen Moment lang frage ich nach der Verhältnismäßigkeit. Glücklicherweise ist dieser Moment kurz nur, denn: Reisen! Irgendwo anders sein! Etwas kennenlernen! Weiterlesen

Monate in Wiepersdorf

Zum Schreiben in Wiepersdorf: ein Ort der Romantik, ein Schloss mit Park, in dem Abbilder griechischer Götter uns Spalier stehen, ein Wald schließt sich an, saubere Luft, grüne Weite, Landfrieden. Draußen passiert derweil allerlei, die Welt sowieso und die alltäglichen Leben dazu. Bis hierher dringen Nachrichten nur wohltemperiert durch.Das Umschlagen von Zeitungsseiten beruhigt; das Lesen über dem Falz, das Zurückblättern, das Knicken und Glattstreichen, das Durchscheinen von Artikeln der Rückseite, wenn man die Zeitung gegen das Licht hält, das Auslöschen der Informationen und damit der Welt durch die Wiepersdorfer Morgensonne – lauter befriedigende Vorgänge, mit denen ein Tag beginnt.Das schönste Licht, darüber herrscht Einigkeit, hat es in den frühen Abendstunden. Hinter dem Schlosspark senkt sich die Sonne ins Bärwäldchen hinein. Die Kastanien im Gegenleuchten eines vergehenden Tages, das Laub verliert durch das Strahlen sein Grün, ein Verwandeln in gleißende Flächen, abertausende glitzernde Seen schweben in der Luft, lauter Reflexionen. Weiterlesen

90 Tage in Wels.

reinberglicht

Die Zeit als Welser Stadtschreiber ist vorbei. Drei Monate habe ich in Oberösterreich verbracht und zu vierundzwanzig verschiedenen Stunden vierundzwanzig verschiedene Orte besucht.

Ich war im Gericht, auf der Trabrennbahn, im alten Rom, im Zirkus, im Nebel unterwegs, auf dem ESC, auf einer Gemeinderatssitzung, im Wettbüro, auf einer Kuchenmesse, auf dem Richard-Wagner-Festival, auf einem Maibaumfest, an einer Müllverbrennungsanlage und hab Proteine gekauft.

Anders gesagt: Ich habe eine Menge von Wels gesehen. Und darüber geschrieben.

»24 Stunden Wels«

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Ein Abend in der Sansibar.

wassertal

Am Abend verlassen wir die Komfortzone. Wir fahren über Rantum hinaus bis nach Wassertal, dort, wo der Loran steht, ein zweihundert Meter hoher Sendemast in der Heide, von den Amerikanern im Kalten Krieg aufgestellt und heute ohne kriegsentscheidende Funktion. Hier ist die Insel so schmal, dass sich von leicht erhöhter Position sowohl das Wattenmeer wie auch die Nordsee sehen lässt. Ein Wind weht, nicht so heftig wie gestern, als ein Sturm ausgerufen war. Bei Sturm wird der Autozug geschlossen, der die Autos vom Festland per Zug über den Hindenburgdamm nach Sylt bringt. Vor Jahren kennzeichnete ein Fahrer seinen LKW als beladen. Nur war der Wagen mit Styroporplatten bepackt, weshalb der LKW vom Zug und der Fahrer ins Wasser geweht wurde. Seit diesem tödlichen Unfall bleibt also der Autozug bei Sturm geschlossen.

wassertal loran

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Vom Unterschied zwischen spazieren gehen mit Fotoapparat und spazieren gehen ohne Fotoapparat.

Watt

Ist man in der Fremde, ergeben sich einige Möglichkeiten, das unbekannte Land zu erkunden: mit dem Auto, mit dem Fahrrad, zu Fuß, wandernd, spazieren gehend, joggend, mit einer Landkarte, mit einem Reiseführer, mit einem Fremdenführer, in einer Reisegruppe. Jede dieser Möglichkeiten ändert das Bild, das sich von der Fremde ergibt.

Auf Sylt bin ich größtenteils auf zwei Arten unterwegs: fotografierend oder spazieren gehend. Beide Arten sind verschieden. Vor jedem Verlassen des Appartements muss ich eine Entscheidung treffen, wie ich mich fortbewege möchte.

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