31. August | Bequeme Zahlen
Es ist anstrengend, auf dem Laufenden zu bleiben. Auf dem Laufenden zu bleiben bedeutet, sich ständig zu informieren, dazuzulernen, deshalb liebgewonnene Erklärungen permanent zu hinterfragen, neue Zahlen zu lesen, alte anders zu interpretieren und damit den bekannten Blick auf das Geschehene neu zu werfen, Fehlinformationen zu benennen und vergangene Überzeugungen, die ich mit ganzer Kraft vertreten habe, möglicherweise zu verwerfen.
Das erfordert viel Kraft, oft bin ich zu bequem dazu. Ich lese weniger als im März, überfliege, nehme mir lieber Erkenntnisse aus der Überschrift mit, als einen Text bis zum Ende zu lesen. Es braucht mehrere Texte, Videos, Argumentreihen, bis ich etwas widerrufe, bis ich mich löse von: Flatten the Curve. The Hammer and The Dance. Die Höhe der Infektionszahlen ist die einzige Zahl, auf die ich jeden Tag gebannt starren muss.
Ich könnte sagen: Ich bin Laie. Ich muss nichts verstehen. Aber in der Pandemie muss ich wie ein Experte auftreten. Ich muss vieles wissen, was mich unter anderen Umständen keinesfalls interessiert hätte. Auch wenn es mir schwerfällt, muss ich verstehen lernen. Für mich und wie ich mich in meinem Umfeld verhalte, so dass ich mich und andere so wenig wie möglich gefährde. Ich muss verstehen, um nachvollziehen zu können, warum sich was gerade ändert. Das Verstehen hilft zu akzeptieren, hilft Kritik zu üben und zu dulden.
Verweigere ich mich dem Verstehen, werde ich bald einer von denen sein, die in Berlin demonstrieren. Ich muss verstehen, damit ich argumentieren kann, damit ich denen, die vom Maulkorb sprechen, etwas entgegensetzen kann. Dabei bin ich Laie, bis auf wenige Ausnahmen sind es alles Laien in der Pandemie. Wir Laien müssen irgendwie klarkommen mit dem Überangebot an Informationen, die komplex sind, ständig mehr werden, sich zum Teil widersprechen.
Ich muss verstehen, warum am Anfang der Pandemie die Experten den Mundschutz nicht empfahlen, warum sie ihre Meinung bald darauf widerriefen und nun nachdrücklich darauf drängen. Ich muss verstehen, weshalb es im März eine Übersterblichkeit gab und im Mai eine Untersterblichkeit und dass letzteres kein Beleg für die Ungefährlichkeit des Virus ist. Ich muss verstehen, aus welchem Grund momentan die Infektionszahlen steigen, aber die Todesfälle sinken. Ich muss begreifen, warum kaum jemand mehr von Schmierinfektion spricht und alle von Aerosolen. Ich muss verstehen, dass die leeren Betten auf der Intensivstation nicht das Ende der Pandemie bedeuten.
Will ich das nicht begreifen, werde ich bequem. Ich niste mich ein in einfachen Erklärungen, ignoriere, was nicht zu dem Einfachen passt. Es ist bequem, Ende August noch die Rhetorik von Bhakdi zu verwenden. Es ist bequem, weil es einfach ist, weil es mir die Angst nehmen würde.
Es ist bequem auch für mich, wenn ich gedanklich im März verbliebe. Wenn ich immer noch Lockdown rufe, wenn eine bestimmte Zahl erreicht wäre. Es wäre bequem, wenn ich jetzt die Tabs schließe und sage: Dieses Wissen reicht bis zum Ende der Pandemie. Ich muss verstehen, dass ich das, was ich aktuell verteidige, wonach ich handele, ich im Laufe der nächsten 1 ½ Jahre mehrmals überdenken, vielleicht widerrufen werde. Ich muss akzeptieren, dass sich daraus Widersprüche ergeben werden. Ich werde lernen müssen, diese zu erklären und zu verteidigen. Höre ich auf damit, die einfache Erklärung, die mögliche Abkürzung, das scheinbar Offensichtliche, das verlockende Bequeme nicht doppelt und dreifach zu hinterfragen, wird die Pandemie über mich triumphieren.
Ansonsten: Auf Drängen des amerikanischen Präsidenten werden die Bemühungen intensiviert und Richtlinien gelockert, um noch vor der Wahl am 3. November einen Impfstoff präsentieren zu können. Bei einer Veranstaltung wird der Gesundheitsminister von Demonstranten bespuckt, die gegen die Corona-Maßnahmen protestieren. Beim MTV-Music Award werden Trophäen in den neugeschaffenen Preiskategorien »Bestes Musik-Video von Zuhause« und »beste Quarantäne-Darbietung« vergeben. Während der Liveübertragung einer Wreslingshow werden von einem der anstatt anwesenden Fans zugeschalteten Zuschauer die Bilder einer Hinrichtung eingespielt. In der Coronazeit werden in Deutschland Kartoffelprodukte überdurchschnittlich häufig gekauft.
[Foto: Yvonne Andrä]
30. August | Das Bild von gestern
Ich frage mich, warum mich die Demonstration in Berlin so beschäftigt. In den immer wieder zitierten Umfragen gibt es eine Zustimmung von unter zehn Prozent dafür, wesentlich mehr befürworten stärkere Maßnahmen gegen Corona als weniger, die deutliche Mehrheit findet die Maßnahmen in Ordnung, bei Fridays for Future waren die Millionen auf der Straße, die die Querdenker gern hätten. Anders gesagt: die Relevanz der gestrigen Demonstration ist wesentlich geringer, als die Berichte, Bilder, Augenzeugenberichte, Kolumnen, Tweets, Screenshots aus Telegramchats suggerieren.
Ich bin aufgeregt. Wenn die Demonstranten gegen Absperrungen drücken, spüre ich den Druck. Skandieren sie, ist es, als brüllten sie ihre Sprechchöre direkt in mein Ohr. Ihre Transparente lerne ich auswendig. Ich tanze angewidert und belustigt, wenn ihre Körper zu einer Version zu Bella Ciao zucken, in der es heißt: Corona Ciao Corona Ciao Corona Ciao Ciao Ciao. Es ist eine Freakshow, es ist ernsthafte Besorgnis, es ist Adrenalin allein vom fernen Zuschauen, der Wunsch, sich dagegenstemmen, obwohl Berlin dreihundert Kilometer weit weg liegt, abstrakte Gedanken, die sich durch die Demonstration in etwas Körperliches übertragen, das Verlangen, bestätigt und entzündet zu werden.
Ich zitiere die vielen Texte, die Corona als Brennglas bezeichnen, als Verstärker der Gegenwart, als ein Überdeutlichmachen dessen, was ohnehin da ist. Dass es bei den Coronademonstrationen nicht um Corona geht, zeigt sich an den Reichskriegsflaggen, die geschwenkt werden, den 18-Codes, den QAnon-Shirts. Corona ist nicht Ursache, Corona ist ein weiterer Anlass für eine allgemeine, tiefergehende Unmutsbekundung, eine Unzufriedenheit, letztlich der Wunsch nach einem radikalen Umbruch. Wäre es nicht Corona, wäre es etwas anderes, weshalb die Demonstranten sich in einer Diktatur wähnten. Sie wären auf der Straße, so oder so.
Vor allem aber geht es bei der Demonstration um die Produktion von Bildern. Die Demonstranten gehen auf die Straße und wollen damit Bilder schaffen, die stärker sein sollen als die Bilder, die jene schaffen, gegen die die Demonstranten antreten.
Das Bild von gestern, das alle anderen Bilder überlagert, das Bild, das bleiben wird, das einmal für diese Zeit stehen wird, entweder als Zenit oder als Anfang, ist das Bild, wie die Demonstranten die Absperrung vor dem Reichstag durchbrechen und die Treppen hinaufstürmen. Vor dem Eingang des Reichstags, dem Ort, an dem die Politik dieses Landes gemacht wird, stehen drei Polizisten. Einer trägt keinen Helm. Diese drei Polizisten verteidigen die Türen des Reichstags. Sie stellen sich den Menschen entgegen, die Reichsflaggen schwenken, einer hat eine Fahne bei sich, auf der der Reichsadler abgebildet ist.
Das Bild sagt: Nazis stürmen den Reichstag. Nicht Coronagegner, nicht Coronawütende, nicht besorgte Bürger, die man ernst nehmen muss, keine Ärztinnen, die andere Meinungen haben als Christian Drosten. Es sind Menschen mit Reichsflaggen und dem Reichsadler, die den Reichstag stürmen. Wenn es ein Bild gibt, dass all diese Menschen und ihre Unterstützer gern an diesem Samstag produzieren wollten, dann dieses: Es ist 2020. Nazis stürmen den Reichstag, das Volk hinter sich wissend.
Die Aktion war angekündigt in Telegramchats. Vor dem Reichstag stehen drei Polizisten, in Hamburg waren es letztens acht, die einen E-Scooterfahrer überwältigten. Diese drei Polizisten verteidigen den Reichstag, sie stehen Vielen gegenüber. Vor drei Tagen schrieb ich, dass es surreal sei zu schreiben, »#SturmAufBerlin klingt wie ein kleiner Krieg«. Heute schreibe ich: Drei Polizisten verteidigen den Reichstag vor Nazis.
Das Bild ist da. Der Sturm ist geglückt. Er ist nicht geglückt. Der Reichstag wurde nicht gestürmt, auch Berlin nicht. Nur ein paar Demonstranten sind eine Treppe hinaufgerannt. Es fühlt sich surreal an, das zu schreiben, so, als gäbe es etwas Zuversichtliches, was ich in diesem Samstag sehen könnte.
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