Lesereise (8). In Köln. Das Radio.

Lesungstagebuch: Der Schlaf und das Flüstern.

Sitzen

Wenn man aus einer Gegend stammt, in der Karneval nur als urbane Legende existiert und zudem Fasching heißt, geht man mit bestimmten Erwartungen an eine Fahrt nach Köln drei Tage vor Rosenmontag. Im Vorfeld entstanden längere Pausen, wenn ich Bekannte dort fragte, ob denn die Berichte übertrieben wären, bevor als Antwort kam: Ganz so schlimm ist es auch nicht. Das so hat dabei so viele o’s wie ein Googol Nullen.

Dabei fängt die Fahrt farblos an. Denn außerhalb des Zugfensters ist alles schneeweiß. Im Prinzip ändert sich das genau dann, als der ICE im Hauptbahnhof einfährt. Aus farblos wird bunt; Flecken von Giraffenschminke, rote Marienkäferpunkte, Kätzchenohren aus Plüsch, SiebenZwergeGruppen mit DIE TRÖTE für 3€, Männer wie Gießkannen verkleidet und Frauen mit Afros und … dann merke ich auch schon, dass es wenig Sinn ergibt, etwas beschreiben zu wollen das für viele einmal im Jahr Alltag ist und für alle anderen unverständlich. Das soll es auch bleiben.

Jede Lesung ist ja anders und diese besonders. Weil sie noch Interview ist und FreitagAusgehAbendTanzMusik bietet und deshalb im Radio übertragen wird. 1Live heißt der Sender. Im Vorfeld waren es Vorfreude und Panik, die sich gegenseitig nie die Waage hielten, denn Panik hielt sich immer alle Optionen offen. Denn klar ist: In Interviews können Fragen kommen. Und diese Fragen könnten zu einem Blackout meinerseits führen. Dass also plötzlich alle Gedanken verschwinden und nur ein schwarzer Punkt durch mein Gehirn irrt und ich verzweifelt versuche ihn zu erwischen, so wie eine Gottesanbeterin irrsinnig auf einem Computerbildschirm einem Mauszeiger nachjagt, solange, bis der Moderator gnädigerweise die nächste Frage stellt, immer im Bewusstsein: Stille ist der Tod des Radios.

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Lesereise (7). In Bochum. Das Hotelzimmer.

Lesungstagebuch: Der Schlaf und das Flüstern.

Beginnen wir mit diesem Bild: Ein Stockentenschwarm bildet ein Muster auf dem Wasser einer Kläranlage. Die Kläranlage befindet sich direkt neben dem Rhein. Anhand der Wasserfarbe lässt sich kein Unterschied festmachen, aber ich vermute, es gibt einen. Weitere Bilder während der Zugfahrt: Friedhöfe neben Wohnwagenparks. Die Städtchen sehen noch mehr Playmobil aus. Alle Sandplätze werden Sonntagmittag von Männern benutzt. Auf dem Loreleyfelsen hängt die japanische und deutsche Flagge, die letztere auf Halbmast. Es wird gewunken. Ein Frachtschiff namens Sympathie zieht stromaufwärts vorbei. Und weil Brücken fehlen, wird schnell klar: wer einmal auf der falschen Seite des Flusses steht, bleibt auch dort. Bald verschwindet das Wasser und verschiedene Städte mittelerfolgreicher Fußballklubs schmiegen sich an die Gleise.

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Lesereise (6). In Köln. Der Pathos.

Lesungstagebuch: Der Schlaf und das Flüstern.

Es ist ja auch immer die Frage, welchen Ton man anschlägt. Denn es bestünde ja die Möglichkeit, alles zu ironisieren. Oder sehr abgeklärt zu beschreiben. Oder kühl zu sezieren. Oder gewichtig zu deuten. Und sicher auch selbstgefällig zu reflektieren. Hier soll ein Ton probiert werden, weil es vielleicht keine andere legitime Art gibt, sich einem entscheidenden Thema der Reise zu nähern. Dazu wird ein Wort fallen, welches zwei Absätze weiter wieder auftauchen wird. Und am Ende. Das Wort heißt Pathos.

Denn man muss auch mal über Freunde schreiben. Weil das ja schön ist: durchs Land fahren und in Städte, in denen Menschen wohnen, mit denen man oft einige Zeit verbracht hat. Sie dann zu sehen und zu sprechen, ist besser als Facebook und die einzige Statusmeldung, die dabei zählt, ist die Erkenntnis, dass man so etwas viel zu selten macht. Da spielt das Real Life seine ganzen Stärken aus. Wenn man zu ihnen in die Wohnungen kommt und die Couch schon ausgeklappt ist und ein Handtuch bereitliegt und man spricht und sich für den Abend verabredet, an dem man zufällig auch noch liest. Und dann das schlechte Gewissen, wenn sie vielleicht doch das Buch kaufen, obwohl man weiß, dass man es ihnen eigentlich schenken müsste, das aber erst in der dritten Auflage geht. Und dann ist es ja meistens zu spät.

Freunde rufen auch in vielen verschiedenen Buchhandlungen an und bestellen das Buch, ohne es zu kaufen, in der Hoffnung, das Geschäft würde es so auf den Stapel neben der Kasse legen. Freunde gehen in andere Großketten und fragen mit tiefer Stimme, ob denn das „überall gelobte Debüt dieses spannenden Jungautoren“ vorhanden sei. Freunde sitzen in der ersten Reihe und schauen so, dass man sie während des Lesens gern und oft anblickt, Freunde bleiben danach länger und man fährt auf ihre Kosten U-Bahn. Freunde. Pathetisch gesprochen: das große Plusplus dieser Reise.

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Lesereise (5). In Berlin. Der Rauch.

Lesungstagebuch: Der Schlaf und das Flüstern.

Berlin ist ja immer wie GTA spielen. Eine Spielwelt, in der alles möglich ist. Nach dem Intro tritt man vor den Bahnhof und eine gesamte Stadt steht zur freien Verfügung. Jeder kann gehen, wohin er will und tun, was er möchte. Manchmal hat das Konsequenzen, meistens nicht. Und diese Vielfalt der Möglichkeiten kann zu einer Lähmung führen. Weil: es gibt ja kein Ziel, nur eine rudimentäre Hauptquest, die aber sowieso nur den üblichen Schemata folgt. Dabei sind die Nebenmissionen der eigentliche Spaß an der Sache. Die Frage ist nur, wie man sie entdeckt. Vielleicht sollte man einfach nach Berlin Buch fahren und dort suchen oder hoffen, ein großer TV-Sender macht vor dem Brandenburger Tor eine Straßenumfrage zur Volkskrankheit Depression und man kriegt so ein paar Erfahrungspunkte gutgeschrieben.

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Lesereise (4). In Weimar. Die Entscheidung.

Lesungstagebuch: Der Schlaf und das Flüstern.

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Aber interessant. Da fällt schon mal die Hälfte weg von dem, was man schreiben könnte. Weil man in Weimar liest. Quasi Haustür. Einmal kurz raus und dann schon da. So bleiben die staunenden Beobachtungen über eine Stadt aus, all die ethnologischen Beschreibungen von vermeintlich Skurrilem. Und auch Anfahrt. Da ist Alltag, da ist Lesung, da ist wieder Alltag. Innerhalb von zwei Stunden kann man so alles abhandeln. Das ist nicht verkehrt, aber auch nicht spannend.

Vermutlich. Denn dann sind knapp zehn Minuten bis zum Lesungsbeginn und knapp fünf Menschen sind schon anwesend, mich eingerechnet. Und einer sagt, hm, in Weimar, da kommen die Bürger immer schon mindestens eine Stunde vorher, um auch ganz sicher zu gehen und einer sagt, naja, aber in Weimar zählt das akademische Viertel doppelt, quasi Universitätsstadt. Und einer will schon die Kasse wieder wegschließen und ich sage vielleicht mal abwarten. Dabei ist das alles schön. Ein großes Buchgeschäft, zwei Etagen, oben nur antiquarisch. Hier bunte Stühle, dort eine integrierte Bar, an der auch Sekt ausgeschenkt wird und in der Mitte ein Tisch, auf dem eine Glaskaraffe mit stillem Wasser steht. Allein schon das Wort. Glaskaraffe. Genauso so bezaubernd wie vor zwei Tagen noch Glasfassade.

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Lesereise (3). In Hamburg. Der Plan.

Lesungstagebuch: Der Schlaf und das Flüstern.

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Man macht sich ja Gedanken. Über Hamburg zum Beispiel. Und plötzlich steht man selbst an den Landungsbrücken oder sitzt im Bus nach Bahrenfeld und was Lied war, wird plötzlich Hamburg. Staunend blickt man zu den Backsteinkontoren hinauf, die sich in den Glasfassaden spiegeln. In Hafencity sehen die frisch gepflanzten Bäume auf den Plätzen, die nach großen Entdeckern benannt sind, genauso aus, wie sich das die Praktikantinnen der Architekten so vorstellten, als sie das Modell von Hafencity optimierten. Die Menschen zwischen den Bäumen und Häusern und Superlativen sind dann lebendig gewordene Styroporfiguren. Bin also ich. In Kürze entsteht hier ein Viertel aus dem Nichts, das genausoviele Menschen beherbergen wird wie Weimar Einwohner hat. Da hat die Lobby der Glasfassadenindustrie exzellente Arbeit geleistet. Dass das Wort Glasfassaden allein im ersten Absatz schon zum dritten Mal auftaucht, ist kein Zufall, jedenfalls kein unbeabsichtigter.

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Lesereise (2). In Frankfurt. Das Mikrophon.

Lesungstagebuch: Der Schlaf und das Flüstern.
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Das könnte ein Text sein über empörende Backstagegeschichten, skandalöse Offenbarungen und Ausrutscher Prominenter. Das ist ein Text über die Magie der korrekten Mikrophonierung. Weil kaum etwas entscheidender ist auf einer Lesung: Die richtige Position des Lesenden zum Mikrophon. Es gibt ja nicht viel, auf das man in den Minuten der Lesung Einfluss üben kann. Die Textstellen sind gewählt, das Erklärende schon mehrmals gesagt, die Bedürfnisse des Publikums kann man sowieso nur ahnen. Deshalb macht es auch keinen Sinn, sie erfüllen zu wollen. Aber ich kann mich setzen. Und eine Körperhaltung finden, die mir bequem scheint. Mich so drehen, dass ich nicht verspanne. Das Mikrophon befindet in der Mehrzahl der Fälle direkt vor mir. Dort würde ich auch gewohnheitsmäßig das Buch halten, aus dem ich lese.

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Also muss ich einen Kompromiss finden; einerseits so sitzen, dass meine Stimme die Membranen des Mikrophons erreicht, andererseits mich so drehen, dass das Buch nicht ans Mikrophon stößt und ich dennoch die Worte im Text erkennen kann. Meistens versucht man das ja vor der Veranstaltung zu testen. Das klappt öfter als man denkt, aber nicht immer. Nicht immer ist an diesem Abend in Frankfurt. Gelesen wird im Kunstverein am Römer, Veranstalter sind die Jungen Verlagsmenschen, die anschließend einen Film über sich zeigen.

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Lesereise (I). In Werdau. Die Anspannung.

Lesungstagebuch: Der Schlaf und das Flüstern.

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Es ist furchtbar. Dieses Gefühl. Manche sagen Lampenfieber dazu. Vielleicht fünfzig Zentimeter sind es bis zum Schrank. Dort ist ein Armaturenbrett eingelassen. Mit den Knöpfen auf dem Brett kann man das Licht im Festsaal löschen. Das ist meine Aufgabe. Das Licht löschen. Jemand wird sagen: „Und nun viel Freude bei der Premiere dieses Films“ und dann werde ich aufstehen, die fünfzig Zentimeter bis zum Schrank zurücklegen, den Schrank öffnen, zwei Knöpfe drücken und sofort wird sich der Raum verdunkeln. Schweiß tritt auf meine Stirn und die Luft schnürt es ab, sekundenlang setzt das Herz aus, wenn ich daran denke. Daran denke, was alles passieren könnte. Ich könnte stolpern, ich könnte daran scheitern, die Tür zum Schrank zu öffnen, ich könnte die falschen Knöpfe drücken, ich könnte in einem Anfall von Verzweiflung versuchen zu erklären, warum ich versage. Und dann wären diese Blicke, alle im Saal würden mich anstarren, sie würden sich jede meiner Bewegungen einprägen und in ihren Köpfen eine unsichtbare Notiz anlegen, auf der sie mich skizzieren und in eine Schublade stecken, die Er-hat-nicht-geliefert-Schublade.

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Lesungstagebuch. Komplett.

Eine Übersicht aller Einträge ins Lesungstagebuch.

Henry Sy Cover

Das Gegenteil von Henry Sy

Roman | Hardcover | 224 Seiten

(7) Hamburg. Sitzplatzreservierungsanzeigedefekt.

(6) Leipzig. Das Geräusch von Kreide auf falschem Schiefer.

(5) Nordhausen. Das Handy der Kanzlerin.

(3) Hamburg. In Substantiven, Verben, Wieworten und Personalpronomen.

(2) Bremen, Oldenburg. Pop-Ups blocken in Bremen.

(1) Fotothek Weimar. Transmediale Frischkäseschnittchen.

Erhältlich bei

asphalt & anders | wo anders

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Ausschau halten nach Tigern

Erzählungen | Hardcover | 160 Seiten

Lesereise (16). Bamberg. Im Liveticker.

Lesereise (15). Leipzig. Ich will.

Lesereise (14). Krefeld. In der Schule. Schon mal anders als das meiste.

Lesereise (13). Hamburg. Tee mit Käse.

Lesereise (12). Frankfurt. Willst du glücklich sein? Oder normal?

Lesereise (11). Köln. Momente der Unvernunft an Orten in weiß.

Lesereise (10). Hamburg. In Zahlen.

Lesereise (9). Hamburg. Zu viel ist auch nur eine Frage der Menge.

Lesereise (8). Köln. Die wunderbare Welt von ausgedachten Glühwürmchen.

Lesereise (7). Zwickau. Die Liebe in Zeiten des Regelsatzes.

Lesereise (6). Freiburg. Eine Tonne Omega-3-Lachsölkapseln.

Lesereise (5). München. Mein Der Regler.

Lesereise (4). JVA. Gürtelschnalle ist okay, Klapptaschenmesser nicht.

Lesereise (3). Erfurt. Zweimal das Tiger-Spezial.

Lesereise (2). Hamburg. Krass ist ein Wort, das immer geht.

Lesereise (1). Leipzig. Lies doch einfach schneller.

Erhältlich bei

bei asphalt & anders | wo anders

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Der Schlaf und das Flüstern

Roman | Hardcover | 272 Seiten

Lesereise (14). In Jena. Die Normalität.

Lesereise (13). In Frankfurt. Der Maradona.

Lesereise (12). In Darmstadt. Der Schlauch.

Lesereise (11). In Hanburg. Die Widmung.

Lesereise (10). In Erfurt. Das Sandwich.

Lesereise (9). In Leipzig. Die Messe.

Lesereise (8). In Köln. Das Radio.

Lesereise (7). In Bochum. Das Hotelzimmer.

Lesereise (6). In Köln. Der Pathos.

Lesereise (5). In Berlin. Der Rauch.

Lesereise (4). In Weimar. Die Entscheidung.

Lesereise (3). In Hamburg. Der Plan.

Lesereise (2). In Frankfurt. Das Mikrophon.

Lesereise (1). In Werdau. Die Anspannung.

Erhältlich bei

bei asphalt & anders | wo anders